Ermittlungen gegen Milosevic

Ein Strafregister wie jedes andere

In der Nähe Belgrads wurden 86 tote Kosovo-Albaner in einem Kühlwagen entdeckt. Die Leichen tauchten zu einem politisch günstigen Zeitpunkt auf.

Das Handy von Helena Ranta will plötzlich keine Ruhe mehr geben. »Da war wochenlang absolute Stille und seit zwei Tagen rufen ständig Leute bei mir an, die mit mir über tote Kosovo-Albaner sprechen wollen«, meint die finnische Pathologin, die im März 1999 durch ihre Obduktion der Opfer des angeblichen Massakers in Racak zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt ist. Offenbar warten auf Ranta und ihr Expertenteam neue Aufgaben auf dem Balkan, denn anders kann sie sich nicht erklären, dass die US-Botschaft in Helsinki sie am Freitag vergangener Woche zu einem Dinner eingeladen hat und plötzlich »ein paar Unterlagen zur Begutachtung vorbeischicken will«.

Möglicherweise hat die überraschende Einladung mit jenen 86 toten Kosovo-Albanern zu tun, die am vorletzten Wochenende in einem Kühlwagen in der Donau nahe Belgrad gefunden wurden und deren Leichen nun obduziert werden. Aber so genau weiß es auch Helena Ranta nicht. »Die Botschaft hat sehr geheimnisvoll getan, ich werde mich also überraschen lassen«, sagte sie der Jungle World. »Wahrscheinlich hat es aber direkt mit dem Fall von Slobodan Milosevic zu tun.«

Immerhin scheint auch das Haager Kriegsverbrechertribunal schon Kontakt mit Ranta aufgenommen zu haben, und die Chancen stehen gut, dass sie in einigen Wochen nach Belgrad reisen muss. Seit dem Fund der 86 toten Kosovo-Albaner scheint die Diskussion um mögliche Kriegsverbrechen im Kosovo und die Beteiligung des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic fortgesetzt zu werden. Schließlich versuchen die Belgrader Behörden derzeit hektisch, Milosevic nachzuweisen, dass er im Frühling 1999 persönlich die Versenkung der Leichen in der Donau angeordnet habe.

Bislang jedenfalls ist das mögliche Strafregister von Slobodan Milosevic auch nicht länger als das eines beliebigen korrupten Politikers irgendwo auf der Welt. »Es liegen noch immer keine Anklagen wegen Kapitalverbrechen wie Mord oder Kidnapping vor, Herrn Milosevic wird lediglich vorgeworfen, Geld des Staates für sich oder die Sozialistische Partei verwendet zu haben«, bestätigt Milosevics zweiter Anwalt, Zoran Ivanovic.

Wird Slobodan Milosevic also vielleicht nur wegen Delikten angeklagt, die auch etwa Helmut Kohl schon vorgeworfen wurden? Für die so genannte internationale Gemeinschaft, die ihren Militäreinsatz gegen Jugoslawien gerne durch den Nachweis serbischer Kriegsverbrechen nachträglich rechtfertigen möchte, wäre dies ein blamables Ergebnis. »Die serbische Justiz hat auch noch keine Ergebnisse bei ihren Ermittlungen wegen des möglichen Attentates auf Vuk Draskovic im Oktober 1999 oder der Entführung des serbischen Ex-Präsidenten Ivan Stambolic im August 2000 vorgelegt«, erklärt Ivanovic weiter.

Der spektakuläre Fund der 86 Toten in der Donau könnte sich daher als sehr hilfreich erweisen. Für die Belgrader Justiz ist dieser Fall eine erste Chance, die Spuren des möglichen Massakers direkt bis zu Milosevic zurückzuverfolgen. »Ich glaube, dieser Fall wird uns ein völlig neues Bild des alten Regimes vermitteln«, erklärt daher auch der serbische Innenminister und Vize-Premier Dusan Mihajlovic.

Vor allem auf psychologische Effekte hoffen die Ankläger. Ein Kühlwagen voller Leichen in der Nähe von Belgrad ist für die serbische Bevölkerung allemal schockierender als ein ebenso grausamer Fund im weit entfernten und noch dazu unter internationaler Verwaltung stehenden Kosovo. Innenminister Mihajlovic vermutet außerdem ein Massengrab mit Dutzenden von Leichen unter der frischen Asphaltdecke einer Autobahn in der Nähe Belgrads. Zusätzlich sollen 800 bis 900 tote Albaner in der Nähe einer Polizeikaserne im Belgrader Vorort Batjanica vergraben sein.

Die Ermittlungsbehörden sind jedenfalls sehr darum bemüht, dass die Bevölkerung eine Auslieferung Milosevics an das Haager Tribunal - oder zumindest eine Anklage wegen Kriegsverbrechen in Belgrad - endlich akzeptiert. Denn bisher gelang es der Justiz nicht, ihm die angeblichen politisch motivierten Straftaten nachzuweisen. »Wirklich schnell sind die Behörden bei ihren Ermittlungen in unserem Fall nicht«, klagt Nikola Barovic, der Anwalt der Familie des möglicherweise auf Milsoevics Befehl entführten serbischen Ex-Präsidenten Ivan Stambolic.

Auch der Fund in der Donau wirft Fragen auf. Während im Belgrader Parlament die Parteien erbittert über eine Auslieferung des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten streiten, sich die montenegrinischen Sozialisten quer stellen und die serbische Regierungspartei Dos langsam die Geduld verliert, werden anscheinend zufällig die 86 Toten entdeckt. »Das kann kein Zufall sein. Es gibt da unserer Meinung nach eine Verbindung, weil man die öffentliche Meinung beeinflussen wollte«, erkärt Ivanovic.

Tatsächlich müssen die Belgrader Behörden schon lange von der Existenz der 86 Leichen gewusst haben. Eine regionale Zeitung in Belgrad beauftragte einen Taucher einer Spezialeinheit der Polizei, die Donau nach dem Kühlwagen abzusuchen. Das war vor sieben Monaten. Kaum anzunehmen, dass die Vorgesetzten des Polizisten nichts von dessen privaten Aktivitäten gewusst haben.

Nach langem Zögern gibt auch Florence Hartman, die Sprecherin der Hauptanklägerin des Haager Kriegsverbrechertribunals, Carla Del Ponte, im Gespräch mit Jungle World zu: »Wir wussten schon seit Dezember 2000 von einigen konkreten Fällen, in denen die Opfer serbischer Massaker im Kosovo nach Serbien geschafft worden waren. Eine eigene Spezialeinheit war dafür zuständig.«

Gut möglich also, dass die 86 gefundenen Toten nicht die letzten waren. Nach Erkenntnissen des Tribunals könnten auch im Kosovo in den nächsten Wochen weitere Gräber entdeckt werden; angeblich seien häufig Leichen innerhalb der serbischen Provinz transportiert worden. Vielleicht werden also zu einem politisch opportunen Zeitpunkt weitere Leichen »gefunden«.

Inzwischen beschäftigen sich Pathologen im Auftrag des Haager Tribunals mit den Leichen der Kosovo-Albaner, und Helena Ranta wird sie wohl bald dabei unterstützen. Eine Auslieferung Milosevics - mit oder ohne Gesetz, denn darüber herrscht noch immer keine Einigkeit - wird es dennoch so bald nicht geben: »Die Behörden werden wohl, als Zeichen ihrer Kooperation, mit anderen beginnen, und ich glaube, dass Leute wie Mladic und Karadzic in nächster Zeit vorsichtig sein müssen«, vermutet der Anwalt Jovanovic. Ein gut gemeinter Rat: Immerhin ist sein Kanzleikollege Toma Fila seit Jahren ein Freund von Radovan Karadzic.