Vertrag von Nizza abgelehnt

No to Nice

Irland lehnt überraschend den Vertrag von Nizza ab und bringt damit die Vorbereitungen auf den EU-Gipfel in Göteborg durcheinander.

Ein irischer Schock in Brüssel. Mit einem Referendum sagten in der vergangenen Woche 54 Prozent der WählerInnen: »No to Nice« - Nein zum EU-Vertrag, der im Dezember in Nizza unterzeichnet worden war.

Eigentlich handelt es sich dabei um die Mehrheit einer Minderheit, denn nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten bequemte sich am vergangenen Donnerstag zu den Urnen. Dennoch brachte das überraschende Votum aus Dublin, zu dem die Grünen, die Sinn Fein, die Sozialisten und einige katholische Gruppierungen aufgerufen hatten, die Verantwortlichen in Brüssel ins Schwitzen.

Eilig wurden Krisensitzungen einberufen, um darüber zu beraten, was so kurz vor dem Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs noch zu retten sei. Das Hauptthema des Göteburger Gipfels steht auf dem Spiel: die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten. Wird der Vertrag von Nizza in einem EU-Staat nicht ratifiziert, so kann er nicht in Kraft treten. Bis Ende 2002 hat die Regierung eines jeden Mitgliedslandes Zeit, im nationalen Parlament über das Vertragswerk abstimmen zu lassen. Geschieht das nicht rechtzeitig, wird auch nichts aus der Osterweiterung. Denn in Nizza wurde die Geschäftsordnung einer erweiterten Union festgelegt.

»Die Osterweiterung ist nicht in Gefahr«, versuchte der Erweiterungskommissar Günter Verheugen am vergangenen Wochenende die Folgen des irischen Überraschungsvotums herunterzuspielen. Fest steht jedoch, dass der Vertrag von Nizza in Göteborg noch einmal auf dem Tisch liegen wird. Und statt wie geplant auf dem Weg der Ost-Erweiterung der Europäischen Union mit großen Schritten voranzugehen, werden die 15 Staaten zunächst einen Satz zurück machen. »Die EU-Kommission wird eine Lösung finden«, versprach Verheugen. »Ein Referendum in einem einzigen Mitgliedstaat sollte das wichtigste Projekt, die europäische Zukunft politisch und ökonomisch zu vereinigen, nicht stoppen.«

Möglicherweise wird dem Nizza-Papier eigens für Irland ein Extra-Protokoll hinzugefügt. Was genau darin stehen wird, ist noch ungewiss. Denn die Sorgen der irischen EU-GegnerInnen in einem Kapitel zu beschwichtigen, dürfte nicht ganz einfach werden. Der irische Ministerpräsident Bertie Ahern äußerte sich nach dem Votum »enttäuscht«, er hat nun die schwierige Aufgabe, den 14 EU-Staaten zu erklären, worum es der irischen Opposition geht. Im Lager der irischen EU-Gegner finden sich ähnlich wie bei den inzwischen zur Tradition gewordenen EU-Gegengipfeln die unterschiedlichsten Fraktionen. Da tummeln sich Abtreibungsgegner, die die EU-Grundrechtecharta ablehnen, neben Befürwortern der irischen Neutralität, die mit der vertraglich geplanten irische Beteiligung an der schnellen Eingreiftruppe der EU verlorengehen könnte.

Gegen das Abkommen von Nizza haben auch die Kritiker der Ost-Erweiterung gestimmt. Wenn der Union statt 15 schon bald 27 Staaten angehören, könnte Irland, das als strukturschwache Region aus Brüssel viele Zuschüsse bekommt, künftig leer ausgehen und möglicherweise selbst für neue Mitgliedsstaaten aus Osteuropa zahlen.

Kein Wunder, das auch die osteuropäischen Aufnahmekandidaten der EU am Wochenende besorgt nach Dublin blicken. »Die Atmosphäre der Beitrittsverhandlungen wird nach dem irischen Nein zu Nizza nicht mehr dieselbe sein«, sagte ein ungarischer Diplomat in Brüssel. Wenn dieses Referendum den europäischen Erweiterungsprozess »aus dem Gleis werfen würde«, sei das »Selbstmord für Europa«, prophezeite der Präsident der tschechischen Republik, Vaclav Havel. Sein Land hat bereits 18 der 31 Verhandlungskapitel mit der EU abgeschlossen und will wie Polen, Slowenien, Estland und Malta möglichst bald der Union beitreten.

Die EU-Kandidaten hatten drauf gehofft, dass in Göteborg der genaue Termin für ihren Beitritt bekanntgeben wird. Seit einigen Jahren herrscht zwischen ihnen ein harter Konkurrenzkampf, dessen Ursachen nicht zuletzt im Vertrag von Nizza zu finden sind. Er erlaubt unterschiedliche Geschwindigkeiten im Erweiterungsprozess und verspricht den Ländern, die am weitesten fortgeschritten sind, bereits 2004 an den Wahlen zum Europaparlament teilnehmen zu dürfen.

Die Sorge um die künftige Verteilung der begehrten Strukturfonds treibt nicht nur die Iren um. Denn mit den »Neuen« werden durchweg Länder mit niedrigem Durchschnittseinkommen der EU beitreten. Die derzeit ärmsten Mitglieder Spanien, Griechenland und Portugal steigen in der erweiterten Gemeinschaft zu den »Reichen« auf und könnten somit die Bedingungen, um Mittel aus den Strukturfonds zu beziehen, nicht mehr erfüllen.

Am Freitag vor einer Woche konnten die EU-Unterhändler der Mitgliedstaaten immerhin zwei heikle Kapitel der Erweiterungsgeschichte abschließen. Sowohl Kapital als auch Personen werden sich in der erweiterten Union frei bewegen können. Mit Einschränkungen, versteht sich. Sonderklauseln mit Übergangsfristen scheinen das neue Patentrezept in EU-Verhandlungen zu sein, wenn es darum geht, den nationalen Interessen der Mitglieder gerecht zu werden.

Im Kapitel »Freizügigkeit der Personen« hat sich der deutsche Innenminister Otto Schily durchsetzen können. ArbeitnehmerInnen aus den neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten dürfen sich erst nach einer Übergangsfrist von sieben Jahren auf dem Arbeitsmarkt der alten EU nach einem Job umsehen. Was den freien Kapitalverkehr betrifft, so haben es die Beitrittskandidaten erreicht, dass nicht ansässige Europäer ebenfalls erst nach sieben Übergangsjahren das Recht bekommen, landwirtschaftliche Nutzflächen oder Immobilien zu erwerben.

Ob Polen, das vor allem den Ausverkauf seiner Ländereien an deutsche Staatsbürger fürchtet, diesem Deal endgültig zustimmen wird, ist noch nicht sicher. Der Verhandlungsspielraum der neuen ist allerdings ähnlich begrenzt wie der so mancher älterer Mitglieder. Spanien versuchte, das Thema »Freizügigkeit« zu blockieren, um weitere Zahlungen aus dem Strukturfonds nach dem Ende des laufenden Finanzierungsprogramms 2006 auszuhandeln.

Nach einigen Wochen gab die spanische Regierung, der von Deutschland vorgeworfen wurde, aus egoistischen Gründen den Erweiterungsprozess zu verzögern, jedoch nach. »Wir glauben immer noch, dass die Angst vor massiver Immigration übertrieben ist«, kommentierte eine spanische Unterhändlerin in Brüssel die Entscheidung. Eine Partnernation habe jedoch um Solidarität gebeten, und diesen Wunsch werde man nicht abschlagen.

Auch die Frage, wie das Geld aus den Strukturfonds künftig zu verteilen ist, wird vermutlich mithilfe von Übergangsfristen beantwortet. Der für Regionalförderung zuständige Kommissar Michael Barbier will solche Fristen gewähren, bevor die Zahlungen an die derzeit ärmsten Südstaaten der EU auslaufen. »Dies war eine erfolgreiche Woche für die Erweiterung«, sagte der schwedische Verhandlungsführer Gunnar Lund.

Der Gipfel von Göteborg, nach dem Schweden die Ratspräsidentschaft an Belgien weitergeben wird, schien gerettet. Dann jedoch kam die Nachricht aus Irland. Trotzdem will die schwedische Präsidentschaft in Göteborg einen konkreten Zeitplan für die Erweiterung vorlegen. Außenministerin Anna Lindh sagte am vergangenen Samstag, Unverbindlichkeit bei den Beitrittsterminen könne »den Druck auf die Mitgliedstaaten verringern, in Sachen Erweiterung voranzukommen«.

Konkrete Zugeständnisse beim Thema Strukturfonds wird es jedoch auf diesem Gipfel weder für die derzeit noch für die künftig ärmsten Staaten der EU geben. Stattdessen dürften sich vor allem Frankreich und Deutschland weiter über die Zukunft der EU streiten. Die abgehobenen Diskussionen über eine Europäische Föderation, die der deutsche Außenminister Joseph Fischer propagiert, oder eine Föderation der Nationalstaaten, wie Lionel Jospin sie vorschlägt, sind zunächst einmal unverfänglicher für viele Beteiligte. »Europa ist in erster Linie ein intellektuelles Werk, ein Gesellschaftsmodell, eine Vision von der Welt«, sinnierte der französische Premierminister vor einigen Wochen, als er sein europäisches Modell vorstellte.

Solche visionären Konstrukte spielen allerdings bei Volksabstimmungen wie in Irland kaum eine Rolle. Viele Iren wollten sich mit ihrem Votum am letzten Donnerstag auch dagegen wehren, dass künftig zu viel nationale Macht auf die europäischen Institutionen übertragen wird. Doch zur Beruhigung solcher Ängste gibt es schließlich Übergangsfristen und Zusatzprotokolle. Und die passen auch nachträglich prima in jeden europäischen Nationenvertrag.