Geschlossene Gesellschaft

Nach den schweren Ausschreitungen während ihres Gipfels in Göteborg erwägt die EU, ein Reiseverbot über militante Demonstranten zu verhängen.

Der Stein fällt kurz vor der Polizeikette auf die Straße. Der Werfer dreht sich um, plötzlich trifft ihn ein Schuss. Er fasst sich an den Rücken, läuft noch ein paar Meter, dann bricht er blutend zusammen. Außer dem 19jährigen Schweden, der am Montag immer noch in Lebensgefahr schwebte, wurden zwei weitere Demonstranten bei den Aktionen gegen den EU-Gipfel in Göteborg am vergangenen Freitag von Kugeln am Bein verletzt.

Es seien die schwersten Krawalle gewesen, die Schweden je erlebt habe, erklärte später Ministerpräsident Göran Persson. Einige hundert Demonstranten seien »nur aus dem Grund gekommen, um zu kämpfen, zu zerstören und zu randalieren«, ergänzte ihn Justizminister Thomas Bodström. Die Beamten hätten um ihr Leben gefürchtet und deshalb zur Waffe greifen müssen. In Fernsehaufnahmen von den Auseinandersetzungen war jedoch eine Notwehrsituation nicht zu erkennen.

Für die schwedische Regierung, die den Gipfel zum Ende ihrer EU-Ratspräsidentschaft organisierte, geriet das Treffen von Göteborg nicht nur wegen der Schüsse zu einem kompletten Desaster. Da die Polizei die Sicherheit in der Innenstadt nicht mehr garantieren konnte, bekamen die Delegationen der 15 EU-Staaten samt den rund 2000 akkreditierten Journalisten eine Ausgangssperre verpasst - ein in der EU-Geschichte einmaliger Vorgang.

Abgeordnete durften ihre Unterkünfte nicht mehr verlassen, ein Abendessen im Stadtzentrum wurde abgesagt. Der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker und sein niederländische Kollege Wim Kok verließen ihr von Demonstranten belagertes Hotel fluchtartig über die Feuertreppe. Persson musste sich von einem entnervt wirkenden französischen Staatspräsidenten Jaques Chirac fragen lassen, wie er nun die Sicherheit seiner Gäste garantieren wolle.

Nur einer wusste sofort, was zu tun ist. »Das sind Verbrecher«, sagte der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder, denen »mit aller Härte entgegengetreten werden« müsse. Bundesinnenminister Otto Schily und sein französischer Kollege Daniel Vaillant forderten noch auf dem Gipfel eine Sondersitzung der EU-Innenminister. Dort sollten sich die Mitgliedsstaaten »sehr rasch auf ein koordiniertes und hartes Vorgehen gegen diese neue Form grenzüberschreitender extremistischer Kriminalität verständigen«, sagte Schily. So habe sich das Ausreiseverbot für Hooligans während der Fußball-Europameisterschaft bewährt. In einer Datei könnten linke Aktivisten registriert und bei entsprechnenden Anlässen mit Einreiseverboten belegt werden.

Die Gegner der Globalisierung und der EU, für die die Tage von Göteborg erst der Beginn des summer of resistance waren, müssen sich nun auf beschwerliche Reisen gefasst machen. Als nächster Event steht Anfang Juli das World Economic Forum in Salzburg auf dem Plan. Das Weltbanktreffen in Barcelona wurde bereits vorsorglich wegen Sicherheitsbedenken abgesagt.

Und beim G8-Treffen, das zwischen dem 18. und 20. Juli in Genua stattfinden soll, will der neue italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi nach einem Bericht der britischen Tageszeitung The Observer auf jeden Fall eine Wiederholung der schwedischen Chaostage vermeiden. Er möchte den Ausnahmezustand verhängen und sämtliche Wege in die Stadt komplett für vier Tage sperren lassen.

Aus Furcht vor militanten Demonstranten entdeckt die EU plötzlich wieder ihre Grenzen. Die schwedische Regierung etwa setzte am Wochenende kurzerhand das Schengener Abkommen außer Kraft, um die Einreise weiterer Aktivisten zu verhindern. Busse wurden an der Grenze angehalten, durchsucht und zur Umkehr gezwungen, die von Dänemark kommenden Fähren auf potenzielle EU-Gegner kontrolliert. Zu diesem Zeitpunkt waren die Kämpfe auf den Straßen allerdings bereits im vollen Gange.

Dabei hatte die Einsatzleitung vorher ganz auf ihr Deeskalationskonzept vertraut. Die Polizei wollte auf eine martialische Präsenz verzichten und die Protestierenden in ihre Vorbereitungen einbeziehen. Die Stadt Göteborg stellte ihnen Gebäude zur Verfügung und bot die kostenlose Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs an. Noch am vergangenen Mittwoch diskutierte Persson friedlich mit Demonstranten über die Zukunft der EU.

Schon einen Tag später hatte die Polizei offensichtlich ihr eigenes Konzept vergessen. Kurz nach der Ankunft des US-Präsidenten George W. Bush, der auf seiner Europareise auch in Göteborg Station machte, umstellten Beamte ein Schulgebäude, das den Gipfelgegnern überlassen worden war. Als die Polizei die Schule stürmte - angeblich, um sie nach Waffen zu durchsuchen - entwickelte sich die erste Straßenschlacht. Die Eingeschlossenen versuchten auszubrechen, Teilnehmer einer Anti-Bush-Demonstration eilten ihnen zu Hilfe. In der Nacht räumte die Polizei das Gebäude. Mehrere hundert Aktivisten wurden festgenommen, der in dem Gebäude geplante Gegengipfel fiel aus.

Als am folgenden Freitagmorgen die Einsatzkräfte dann noch einem Demonstrationszug den Weg in das Stadtzentrum versperrten, eskalierte die Situation. Barrikaden wurden gebaut, Autos angezündet, Geschäfte geplündert. Zeitweilig geriet das Geschehen außer Kontrolle. Damit hatten wohl beide Seiten nicht gerechnet; die Polizei nicht mit einer solchen Anzahl militanter Demonstranten, die Aktivisten nicht mit einer derart orientierungslosen Polizei. Am Abend gingen die Auseinandersetzungen in der Innenstadt weiter, als die Einsatzkräfte eine Reclaim-the-City-Party beenden wollten. Als sie von mehreren hundert Demonstranten attackiert wurden, griffen einige Beamte zur Waffe. Die Abschlusskundgebung am Samstag, an der etwa 20000 skandinavische, niederländische, italienische und deutsche EU-Gegner teilnahmen, verlief hingegen weitgehend friedlich.

Die gewaltsamen Ereignisse bestimmten auch die Berichte über den offiziellen Gipfel, obwohl sich die Delegationen am Ende sehr bemühten, ein positives Bild zu präsentieren. Nach dem klaren Bekenntnis der Teilnehmer zur Aufnahme neuer Mitglieder gaben sich vor allem die östlichen Beitrittskandidaten geradezu euphorisch. Die EU habe »einen riesigen Schritt zum Beitritt gemacht«, jubelte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, erklärte sein tschechischer Kollege Milos Zeman.

Die Regierungschefs der EU hatten zuvor den fortgeschrittenen Kandidanten in Aussicht gestellt, 2004 als Mitglieder an den Wahlen am Europaparlament teilzunehmen. Die Aussage erleichterte vor allem den polnischen Ministerpräsidenten Jerzy Buzek. Schließlich hatte er in den letzten Monaten von der deutschen Bundesregierung eine konkrete Terminzusage gefordert. Doch ausgerechnet Polen fällt es immer schwerer, die Voraussetzungen für den Beitritt zu erfüllen. Das Land hat erst 16 der insgesamt 31 Kapitel der EU-Verhandlungen abgeschlossen. Und für das schwerste Kapitel, die Agrarsubventionen, will die EU-Kommission erst Mitte 2002 ihre Vorschläge bekannt geben. Dies könne noch zu erheblichen Schwierigkeiten im Zeitplan führen, erklärte Schröder.

Dass sich die Regierungschefs dennoch zu einer demonstrativen Aussage hinreißen ließen, lag vermutlich vor allem an dem irischen Votum gegen den Vertrag von Nizza, den alle EU-Staaten vor einer Erweiterung unterzeichnen müssen. Irlands Ministerpräsident Bertie Ahern beeilte sich denn auch, seine Kollegen zu beschwichtigen. Das Nein der Iren sei kein Votum gegen die Beitrittskandidaten gewesen, sondern vielmehr ein Zeichen der Sorge um die künftige Neutralität des Landes. Die EU-Chefs überlegen nun, ob sie Irland von einer Beteiligung an der Schnellen Eingreiftruppe entbinden sollen.

So konnte der Gipfel am Ende doch noch ein bisschen schöngeredet werden. Und auch die Polizei beeilte sich, ihre Bilanz aufzubessern. Sie nahm noch am Sonntag zahlreiche Demonstranten fest. Insgesamt wurden in Göteborg über 900 EU-Gegner verhaftet und über 70 verletzt. Gegen 114 Personen, darunter einige Deutsche, wurden am Wochenende Haftbefehle erlassen. Der von einer Kugel getroffene Schwede liegt noch immer auf der Intensivstation. Die Polizei wiederum klagt über 20 verletzte Beamte und den Tod von sieben Pferden.