Krise nach Morden im Königshaus

Patrioten auf leuchtendem Pfad

Nicht erst seit den Morden im Königshaus steckt Nepal in einer schweren Krise. In weiten Teilen des Landes agiert mit wachsendem Erfolg eine maoistische Guerillabewegung.

Die Bluttat im Königshaus hat Nepals Zukunft noch ungewisser gemacht, als sie während der letzten Jahre sowieso schon war. Was auch immer in der Nacht zum 2. Juni passiert sein mag, die offiziellen Erklärungsversuche sind zumindest in der nepalesischen Öffentlichkeit auf große Zweifel, Wut und Empörung gestoßen. Mindestens sechs Menschen wurden bei Protestdemonstrationen von der Polizei getötet. Kaum jemand scheint dem am vergangenen Donnerstag veröffentlichten Untersuchungsbericht glauben zu wollen. Thronfolger Dipendra soll, berauscht von Whisky und Haschisch, seine Eltern, König Birendra und Königin Aishwarya, sowie sieben weitere Verwandte erschossen haben. Ein Motiv wird in der offiziellen Version nicht genannt, doch wird kolportiert, Dipendra sei Amok gelaufen, weil seine Eltern ihm die Heirat mit der Braut seiner Wahl untersagt hätten.

Befragt werden kann Dipendra freilich nicht mehr, da er den Verletzungen, die er sich nach den Morden selber zugefügt haben soll, wenige Tage später erlag. Und so halten sich im Land die Gerüchte, dass Nepal das Opfer einer Intrige einer der zwei regionalen Großmächte Indien oder China ist. Andere glauben, die maoistische Guerillabewegung könnte ihre Hände im Spiel gehabt haben, weil sie unter anderem gegen die konstitutionelle Monarchie kämpft.

Doch der ideologische Kopf der Maoisten, der promovierte Architekt Baburam Bhattarai, urteilte in einem von der nepalesischen Zeitung Kantipur veröffentlichten Artikel erstaunlich positiv über den getöteten König: »Obwohl ein Produkt der Feudalklasse, hatte er einen relativ patriotischen Geist und einen liberalen politischen Charakter.« Weil Birendra die Maoisten nicht hart genug bekämpft und sich China angenähert habe, sei er einer Veschwörung der CIA und des indischen Geheimdiensts zum Opfer gefallen. Der Herausgeber der Zeitung und zwei seiner Mitarbeiter wurden nach der Veröffentlichung des Artikels am 6. Juni verhaftet.

Die überraschende Kehrtwende der Maoisten dürfte einen Versuch darstellen, die gegenwärtig überschäumenden nationalistischen Emotionen auszunutzen. Weitgehend unbeachtet vom westlichen Ausland war die Communist Party of Nepal (Maoist) bereits Anfang 1996 angetreten, um durch einen »Volkskrieg« die »reaktionäre Staatsmacht zu stürzen und einen neuen Volksstaat zu errichten«. Kader der Partei, einer von drei Splittergruppen der 1949 im indischen Exil gegründeten kommunistischen Bewegung Nepals, begannen in einigen Distrikten West- und Mittelnepals mit ihrer militanten Kampagne, die sich in den letzten Monaten zu einer ernsthaften Bedrohung für den nepalesischen Staat und die Regierung um Premier Girija Presad Koirala entwickelt hat. Die von einem ehemaligen Minister gegen Ende des letzten Jahres vermittelten Gespräche zwischen Regierungsvertretern und führenden Mitgliedern der maoistischen Bewegung ließen nur für kurze Zeit Hoffnungen auf eine Lösung des Problems aufkeimen.

Die radikale Bewegung, deren Vorbild die peruanische Guerillaorganisation Leuchtender Pfad ist, bekämpft das parlamentarische System Nepals, das es in seiner jetzigen Form erst seit der Anti-Panchayat-Bewegung von 1990 gibt. Bis zu diesem von großen Bevölkerungsteilen getragenen Aufstand, der dem Land Parteien und ein Parlament brachte, ruhte die exekutive, legislative und judikative Gewalt in den Händen des jetzt ermordeten Hindukönigs Birendra. Die Maoisten fordern die Abschaffung der konstitutionellen Monarchie, was den noch verbliebenen Einfluss des Königs endgültig auf den eines Würdenträgers und Mittlers zwischen den 35 verschiedenen Bevölkerungsgruppen Nepals reduzieren würde. Eine neue Verfassung soll eine »säkulare Volksrepublik Nepal« etablieren und den Übergang der Macht an die Arbeiter und Bauern ermöglichen.

Hintergrund des Aufstands und der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen sind die vielfältigen sozio-ökonomischen und politischen Probleme in einem Land, das im Westen von der Tourismusindustrie als Shangri La, als Land von Pagoden und Tempeln oder als Trekkingparadies gehandelt wird. Aber auch gut zehn Jahre nach der Demokratisierung des Himalaya-Staates dominieren gesellschaftliche Ungleichheiten, hohe Arbeitslosigkeit und die Unterdrückung von kastenlosen und verarmten Bevölkerungsteilen durch die Reichen das Bild.

Bhattarai glaubt, dass die Maoisten die Lösung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme bereithielten, unter denen die gesamte nepalesische Gesellschaft leide. Dank des Aufstands sei das Volk zum ersten Mal aus seinem Tiefschlaf erwacht und sich der halbkolonialen und halbfeudalen Unterdrückung und Ausbeutung bewusst geworden. Die sklavische Ergebenheit der herrschenden Feudalklasse Nepals gegenüber den ausländischen Mächten habe einen unabhängigen sozio-ökonomischen und politischen Entwicklungsprozess unmöglich gemacht.

Eine kleine kapitalistische Klasse feudaler und bürokratischer Mittelsleute, die nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmache, übe durch die Monopolisierung von Macht und Ressourcen eine Hegemonie über 95 Prozent der Bevölkerung aus. Die Folge seien gewaltige soziale, nationale und regionale Unterschiede. »All das hat dazu geführt, dass Nepal heute den schändlichen Ruf hat, das zweitärmste Land der Welt zu sein. In dieser Situation ist es an der Zeit, diesen Staat mit seiner verkommenen sozio-ökonomischen Struktur zu verwerfen und einen revolutionären Wandel auf der Grundlage einer neuen Demokratie zu schaffen«, erklärt Bhattarai.

Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht davon überzeugt, dass die Maoisten wirklich einen »leuchtenden Pfad« aus der Misere weisen. Trotzdem hat die Bewegung einen großen Zulauf gerade junger Nepalesen aus den armen ländlichen Gebieten zu verzeichnen, weil die schwierige wirtschaftliche Lage ihnen oft keine andere Wahl mehr lässt. Alle Versuche, des Problems Herr zu werden, sind bisher auch deshalb gescheitert, weil die zahlreichen Regierungen seit 1996 entweder die Aktivitäten der Guerilla verharmlost haben oder ihr Heil in der militärischen Zerschlagung der Bewegung suchten. Brutale Polizeieinsätze, willkürliche Verhaftungen und Folterungen von Verdächtigen haben jedoch die Lage nur verschlimmert.

Bei ihren Aktionen gehen die Rebellen ihrerseits nicht weniger gewalttätig vor. In jüngster Zeit mehren sich brutale Überfälle auf Polizeistationen sowie Morde an Kommunalpolitikern oder an als »Feinde« bezeichneten Zivilisten. Nepalesische und internationale Menschenrechtsorganisationen haben wiederholt beide Konfliktparteien beschuldigt, für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein. Schätzungen zufolge kosteten die bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen bisher fast 2 000 Menschenleben auf beiden Seiten. Mittlerweile hat der Konflikt sogar erste Spuren in der für das Land so wichtigen Tourismusindustrie hinterlassen, viele Touristen haben ihre Reise aus Sicherheitsgründen storniert.

Die Maoisten, die mittlerweile über schätzungsweise 5 000 bis 10 000 Kader verfügen, haben innerhalb des letzten Jahres viele Gebiete des Himalaya-Staates unter ihre Kontrolle gebracht und sind sogar in der Lage, die Hauptstadt Kathmandu mit Streikaufrufen zu destabilisieren und lahm zu legen. In anderen, schwer zugänglichen Gebieten des Hochlandes haben sie sich dem Zugriff der Sicherheitskräfte entzogen und sich verschanzt. Das Terrain Nepals bietet gute Voraussetzungen für den Guerillakrieg, dessen Ende ist deshalb nicht in Sicht.

Langfristig scheinen nur die weitere Demokratisierung sowie eine wirtschaftliche Entwicklung, die auch den verarmten Bevölkerungsteilen zugute kommt, Lösungsmöglichkeiten zu bieten. Beobachter bezweifeln jedoch, ob die gegenwärtige Führungsriege um Premierminister Koirala überhaupt in der Lage ist, solche Ziele zu realisieren. Zu sehr ist der regierende Nepali Congress mit innerparteilichen Machtkämpfen und die Führungsriege der Partei mit der Sicherung eigener Pfründe beschäftigt. »Das Wohl des Staates und das Bemühen um eine fortschrittsorientierte Politik interessieren offensichtlich niemanden«, meint ein politischer Beobachter in Kathmandu.

Ob die Maoisten mit ihren Zielen allerdings eine Alternative darstellen, bleibt fraglich. Die bestehenden geopolitischen Realitäten lassen vermuten, dass sie auf ihrem Weg nach Kathmandu noch einige schwere Brocken aus dem Weg räumen müssen. Bei einer weiteren Eskalation ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, dass sich die Großmächte Indien und China, zwischen die Nepal eingebettet ist, in die innenpolitischen Angelegenheiten des Himalaya-Staates einmischen werden. Gerade Indien, das Nepals Wirtschaft und Politik zu einem beachtlichen Teil kontrolliert, dürfte kein Interesse an einem revolutionären Wandel haben.

Obwohl die Maoisten auch zum »revisionistischen« China ideologische Distanz wahren, werfen sie vor allem dem großen Nachbarn im Süden vor, Nepal in semi-kolonialer Abhängigkeit zu halten und expansionistische Ziele zu verfolgen. So fordert Bhattarai, dass gegen den neuen König, die »Marionette der Expansionisten«, die »patriotischen Söhne der Mutter Nepal« zusammenstehen müssten.