Kollaboration in Polen im Zweiten Weltkrieg am Beispiel der Kleinstadt Jedwabne

»Nachbarn«

Buchkritik Von

Am 10. Juli 1941 fand in Jedwabne, einer etwa 150 Kilometer von Warschau entfernten Kleinstadt, ein Pogrom statt, bei dem etwa 1 500 jüdische EinwohnerInnen von ihren Nachbarn ermordet wurden.

Der New Yorker Politikprofessor Jan Tomasz Gross, der 1968 während der antisemitischen Kampagne aus Polen emigrierte, veröffentlichte im Mai 2000 ein Buch über das Pogrom in Jedwabne, von dem bis zu diesem Zeitpunkt nur einige Fachhistoriker, die Überlebenden und die örtliche Bevölkerung gewusst hatten. Angeregt und geplant wurde die Mordaktion vom Bürgermeister und vom Magistrat der Kleinstadt - im Einverständnis mit der deutschen Gendarmerie.

Die Einsatzgruppe B befand sich zu dieser Zeit bereits im Raum Minsk. Gross rechnet in seinem Buch anhand der 92 namentlich bekannten Verantwortlichen für das Pogrom vor, dass etwa die Hälfte der nicht jüdischen erwachsenen Männer der Kleinstadt Jedwabne aktiv am Mord beteiligt war. D.h., dass keineswegs nur eine »kleine Gruppe Krimineller« zu Judenmördern wurde. Dabei unterstreicht Gross, dass es ohne die deutsche Besatzung dieses Pogrom nicht gegeben hätte.

Gleichzeitig zeigt er aber auf, wie bereitwillig und aktiv viele Einwohner des Ortes den von den Deutschen geschaffenen Raum nutzten, straffrei gegen Juden vorzugehen. Dies sei nur wegen einer antisemitischen Grundstimmung möglich gewesen, die den Mördern die Gewissheit gab, im Einvernehmen mit einem Großteil der nichtjüdischen Bevölkerung zu handeln.

Gross rekonstruiert die Vorbereitungen und den Verlauf des Pogroms anhand von Aussagen des Überlebenden Szmul Wasersztajn aus dem Jahr 1945 und Texten eines Gedenkbuchs der Jedwabner Juden, das 1980 in Israel und den USA erschien. Sein Buch basiert weiter auf Gerichtsakten der Prozesse von 1949 und 1953, die gegen einen Teil der Mörder geführt wurden. Die Anklage beschränkte sich damals auf dem Vorwurf der Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern.

Außerdem stützt sich Gross auf die Aussagen von Zeitzeugen und auf Interviews, die die Regisseurin Agnieszka Arnold 1998 für einen Dokumentarfilm über Jedwabne mit Einwohnern des Ortes geführt hat. Die Zeitzeugen spielen eine zentrale Rolle in seinem Buch, zumal er darauf verweist, dass den Aussagen jüdischer Überlebenden oft Misstrauen entgegengebracht wird. Gross gibt zu, dass auch er lange Zeit die Aussagen Szmul Wasersztajns nicht in ihrem vollem Umfang begriffen habe. In seinem Buch plädiert er deshalb für einen »neuen Zugang zu den Quellen«, der im affirmativen Umgang mit Zeitzeugenaussagen bestehen sollte.

Der relativ knappe Essay sollte wohl nicht nur von einer akademischen Leserschaft rezipiert werden, sondern durch seinen populären Stil eine breite Diskussion über Antisemitismus in Polen in Gang setzen. Gewisse wissenschaftlich-methodische Mängel und Schwächen sind durchaus vorhanden, z.B. fällt das Kapitel zur Zwischenkriegszeit sehr ungenau aus. Die entscheidenden Tatsachen werden jedoch korrekt wiedergegeben.

Der Verlag hat auf einer Homepage englische und deutsche Artikel zum Thema gesammelt: pogranicze.sejny.pl Die deutsche Übersetzung soll im September 2001 im C.H. Beck Verlag erscheinen.

Jan Tomasz Gross: Sasiedzi. Historia zaglady zydowskiego miasteczka. (Nachbarn. Die Geschichte der Vernichtung einer jüdischen Kleinstadt). Sejny, 2000.