Proteste gegen die Globalisierung

Kritik am Wendepunkt

Mit dem Ende der neoliberalen Phase wird die Kritik am Neoliberalismus gegenstandslos. Damit entfällt auch die einzige Gemeinsamkeit der Protestbewegung.

Die G 8-Herrlichen haben, Berlusconi sei Dank, die altvertraute Strategie von Zuckerbrot und Peitsche um eine neuartige Variante bereichert. Entgegen ihrer diskursiven Strategie der Spaltung in einen bösen, gewaltbereiten »Schwarzen Block« und die wohlmeinenden friedlichen Demonstranten ließen sie die gleichen Leute im Schlaf überfallen und zusammenschlagen, denen sie sich tagsüber »dialogbereit« zeigten.

Erst einmal eint der staatsterroristische Übergriff die Schar der Globalisierungskritiker. Werden sie aber auch mittelfristig das freundliche Doppelangebot ausschlagen: Prügel und Kopfschüsse bei Renitenz, Lob und ein bisschen Knete für die NGO, wenn sie sich brav als Glaubwürdigkeitslieferanten betätigen?

So oder so, der Mord mit Ansage und die anschließende chilenische Nacht markieren einen Einschnitt in der Entwicklung des Anti-Globalisierungsspektrums. Die Auseinandersetzungen bei den jeweiligen Gipfeln haben spätestens seit Seattle dem Unbehagen an der Durchsetzung des global entfesselten Marktes erst so richtig zum Durchbruch in die öffentliche Diskussion verholfen. Und auch die Ereignisse in Genua wirken mobilisierend. Gleichzeitig droht die Fixierung auf den Polizeiterror die überfällige Diskussion um die Stoßrichtung der Globalisierungskritik gerade in dem Augenblick zu blockieren, da eine Auseinandersetzung mit dieser Frage dringender geboten wäre denn je.

Mit Genua beginnt nämlich für die Kritiker der Globalisierung nicht nur deshalb ein neues Kapitel, weil der repressive Kern der Demokratie wieder einmal deutlich zum Vorschein kam; auch an der sozial-ökonomischen Wetterfront ziehen Gewitterwolken auf. Auf den nächsten G 8-Meetings dürfte es den Regierungschefs kaum mehr in erster Linie darum gehen, ein erheucheltes Verantwortungsgefühl für die »Ärmsten der Armen« medienwirksam zu inszenieren. Denn die kasinokapitalistische Wunderökonomie befindet sich auf Absturzkurs. Die lange Periode, in der die Konsequenzen des fundamentalen Krisenprozesses in den Weltmarktzentren durch Kredit und Spekulation aufgeschoben und auf die kapitalistische Peripherie abgewälzt werden konnten, neigt sich dem Ende zu. Damit wird aber das Gerangel um die Kostenverteilung unter den G 8 alle anderen Fragen verdrängen. Für die Anti-Globalisierungsbewegung bedeutet dies aber, dass sie sich ganz neu orientieren muss, will sie nicht im Strudel der Krisenverschärfung fortgespült werden.

Erstens wird es nun immer schwerer fallen, die eigene soziale Lage und Lebenssituation zu verdrängen und den Protest in der Form spektakulärer Stellvertreterkämpfe zu artikulieren, so als ginge es um weit entfernte Probleme. Zweitens wird aber auch die Kritik am Neoliberalismus, die einzige Gemeinsamkeit, auf die sich bisher das Protestspektrum einigen konnte, mit dem Ende der neoliberalen Phase in ihrer alten Form gegenstandslos. Denn die westlichen Regierungen verabschieden sich mittlerweile auch offiziell von dem Dogma, der Staat dürfe nicht in das »freie Spiel der Marktkräfte« intervenieren, und versuchen stattdessen, durch hektische Ausgabenprogramme und ungedeckte Geldschöpfung die stotternde Nachfrage anzukurbeln und das Platzen der Spekulationsblase noch einmal für einen kurzen Zeitraum aufzuschieben. Dieser »Börsenkeynesianismus« ist die praktische Blamage der völlig haltlosen Illusionen von Attac und Co. (Jungle World, 30/01), und es dürfte deshalb immer schwerer werden, den Staat noch als Protagonisten einer besseren Gesellschaft hinzustellen.

Schon jetzt findet ja der Staats- und Regulationsfetischismus keinesfalls eine so große Liebe im Protestspektrum, wie es nach außen zuweilen erscheint. Allerdings bleiben die weitergehenden antikapitalistischen Impulse äußerst verschwommen und finden häufig genug einen durchaus dubiosen ideologischen Ausdruck. Es fällt nicht schwer, darin auch die zentralen Motive eines verkehrten Antikapitalismus auszumachen, der strukturell mit dem Antisemitismus kompatibel ist und der deshalb auch in ihn umschlagen kann - und zwar nicht nur bei den Anhängern von Attac. Und es ist auch absolut notwendig, dies ideologiekritisch aufzuzeigen.

Selber verkehrt wird die Kritik aber, wo sie nichts mehr anderes zu sehen vermag als eben diese ideologischen Motive und dann die Anti-Globalisierungsbewegung, wie überhaupt jede Protestregung, darunter subsumiert - auch wenn im Nebensatz gelegentlich bemerkt wird (so etwa von Udo Wolter in Jungle World, 30/01), sie habe auch ihre guten Seiten. Dieser identitätslogische Reduktionismus trifft nicht einmal die unter den Globalisierungskritikern kursierenden theoretischen Deutungsraster, die im Affekt gegen das Finanzkapital und die großen Konzerne eben nicht aufgehen.

Schon gar nicht wird er dem Protest selbst, seinen Ursachen und Motivationen gerecht. Zunächst einmal ist er eine Reaktion auf die zunehmende Unerträglichkeit der kapitalistischen Verhältnisse und die wachsenden Zumutungen der neoliberalen Krisenverwaltung. Dass sie einen äußerst diffusen ideologischen Ausdruck findet, kann nicht weiter verwundern, denn darin spiegelt sich das Gesamtelend des gesellschaftskritischen Denkens in den letzten zwanzig Jahren wider. Als der Ende der neunziger Jahre neu erwachte Protest gegen den »Terror der Ökonomie« antrat, rückte er damit auf ein Feld vor, das die Gesellschaftskritik mit theoretischem Anspruch (fast) restlos geräumt hatte. Als geistiges Rüstzeug blieben der aufkeimenden Protestkultur erst einmal nur die Konzepttrümmer abgeschlossener Epochen.

Es mutet reichlich merkwürdig an, wenn dementgegen der Kritik nichts anderes einfällt, als den Protestierenden einfach nur ihre ideologischen Verkürzungen und Verkehrungen vorzuhalten, ohne selbst auch nur im mindesten Antworten auf die Fragen geben zu können, an denen sich der Protest entzündet. Sie projiziert damit ihr eigenes Versagen als Anspruch auf jene, die ihn natürlich niemals unmittelbar einlösen können.

Freilich darf keinesfalls angenommen werden, dass sich der spontane Protest in irgendeiner Weise »automatisch« zu einer radikalen Kritik entwickelt, denn das hieße, ihm zu unterstellen, er sei »an sich« schon antagonistisch zum Kapitalverhältnis und müsse nur noch »zu sich« kommen. Diese metaphysische Konstruktion des Marxismus gehört auf den Müllhaufen der bürgerlichen Geschichte. Allerdings kollidieren die Schemata des ideologischen Bewusstseins beständig mit der Bewegungsdynamik des Krisenkapitalismus, die es sich zu erklären trachtet und die es zu kritisieren sich einbildet. Was für die haltlosen Forderungen nach einer staatlichen Regulation gilt, lässt sich generalisieren. Immer durchsichtiger wird der legitimatorische Diskurs, der behauptet, es gebe warengesellschaftliche Lösungen für die Klimakatastrophe, die Massenverelendung usw.

Zwar ist das ideologische Bewusstsein sehr geübt darin, die Widersprüche der kapitalistischen Wirklichkeit immanent zu verarbeiten und in sein Erklärungsraster zu integrieren. Doch inwieweit das gelingt, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob an ihnen der fetischistische Charakter der Warengesellschaft, ihre Destruktivität und Unhaltbarkeit demonstriert werden. Dazu ist eine Ideologiekritik, die auf jede ernsthafte Realanalyse der krisenkapitalistischen Entwicklung verzichtet, aber schlicht und einfach nicht in der Lage. Sie kann das ideologische Bewusstsein immer nur mit den allgemeinen Formeln der kapitalistischen Logik konfrontieren. Gerhard Hanloser hat völlig Recht, wenn er schreibt, eine solche »Wertkritik« brauche sich nicht zu wundern, »dass die Aktivisten zu plattem Antiimperialismus oder der katholischen Soziallehre greifen« (Jungle World, 28/01).

Freilich ist die Identifizierung von Wertkritik mit reduktionistischer Ideologiekritik wohl nicht zuletzt aus einem Freiburger Wohnorttrauma zu erklären und außerhalb der engen Grenzen des deutschen Linksradikalismus kaum verständlich. Denn es ist ja gerade die Seite der Marxschen Theorie, die der traditionelle Marxismus immer ignoriert hat, nämlich die Kritik an der warenförmigen Konstitution der kapitalistischen Gesellschaft, die heute gerade auch für die Analyse der realen Entwicklung erst

so richtig virulent wird. Nur vor dem Hintergrund einer solchen Analyse macht auch Ideologiekritik einen Sinn. »In der totalen Gesellschaft ist alles gleich nah zum Mittelpunkt; sie ist so durchschaubar, ihre Apologie

so fadenscheinig, wie die aussterben, welche sie durchschauen. Kritik könnte an jedem Verwaltungshaus der Industrie und jedem Flughafen dartun, in welchem Maß der Unterbau sein eigener Überbau wurde. Dazu bedarf sie einerseits der Physiognomik des Gesamtzustandes und ausgebreiteter Einzeldaten, andererseits der Analyse der ökonomischen Strukturveränderungen; nicht länger der Ableitung einer selbständig und mit eigenem Wahrheitsanspruch gar nicht mehr vorhandenen Ideologie aus ihren kausalen Bedingungen.« (Adorno, Negative Dialektik, S. 263)