»Die Kultur der Lüge« von Dubravka Ugresic

Der unfertige Text

Dubravka Ugresics Aufsätze über die »Kultur der Lüge« legen die Ungeheuerlichkeit des Selbstverständlichen bloß.

Textmaschine Balkan: Der Austoß dissidenter Literatur in und über Postjugoslawien war in den neunziger Jahren gewaltig, der Bedarf daran im Westen, insbesondere in Deutschland, groß. Die Menschen und Grenzen auf dem Balkan waren in ständiger Bewegung. Die Autoren rannten der Gegenwart hinterher. Essays wurden oft so schnell publiziert wie sie wieder veralteten. Ihre Halbwertzeit war kurz.

Völlig anders beschaffen sind die Arbeiten von Dubravka Ugresic, kroatische Autorin wider Willen. Obgleich ihre Aufsätze in den Zeiten der Turbohistorie zwischen 1991 und 1994 entstanden sind und eine unmittelbare Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens und die Kriege in Bosnien und Kroatien darstellen, gehören sie zu jenen Texten, die bis heute ein Referenzsystem im Diskurs über die gesellschaftlichen Entwicklungen in den Republiken des ehemaligen Jugoslawien abgeben. Publiziert wurden die Aufsätze ausschließlich im Ausland, u.a. in Les Temps Modernes, Lettre Internationale, Sinn und Form sowie in der Zeit. Als die Essays 1994 in Buchform editiert wurden, hatte die als »Volksfeindin« diffamierte Ugresic das Land bereits verlassen.

»Die Kultur der Lüge«, so der Titel des bei Suhrkamp erschienenen Bandes, ist nicht nur ein Buch über die Initiation und Herstellung Kroatiens, sondern zugleich ein Buch über und gegen den Nationalismus schlechthin. Politikerreden, Erzählungen von Freunden, Turbo-Folk, Zeitungskommentare, Soap Operas, Pop und Mythen liefern das Material, mit dem sie den Darstellungsformen des Nationalismus und den Strategien der ethnischen Differenzierung in der Zeit des Verteidigungs- und Gründungsrausches nachgeht. Erzählt wird die Gründungsgeschichte des (sich heute demokratisch wähnenden) Staates, vor deren Hintergrund allein die heutige Gesellschaft verstanden werden kann.

Was diese Aufsätze vom Dissidenz-Journalismus unterscheidet und ihre Lektüre so angenehm macht, ist zunächst einmal der Verzicht auf jedes aufgeregte »An die Weltöffentlichkeit!«-Pathos. Die Autorin, die politisches Essay und persönliche Erzählung, Theorie und Alltagsgeschichte miteinander verbindet, verständigt sich weder über den Kopf des Lesers hinweg mit den Außenministern der westlichen Welt, noch verhandelt sie mit anderen Intellektuellen über die politischen Optionen der Zukunft. »Die Kultur der Lüge« ist eine luzide Abrechnung mit dem Land, zu dessen Staatsbürgerin sie ungefragt gemacht wurde.

Nationale Paranoia kann ganz unaufdringlich transportiert werden. Zum Beispiel auf einer Getränkedose im Coca Cola-Look mit der Aufschrift »Saubere kroatische Luft«, die zu Zeiten der Unabhängigkeitserklärung in den Souvenirshops von Zagreb auftauchte und schnell zum Kultobjekt in einer von Reinheitsideen besessenen Gesellschaft wurde. Oder martialisch wie in den Reden Franjo Tudjmans. »Jeder Staat wird in Blut geboren«, hatte er nicht nur verkündet, sondern die Metapher dann auch bildgetreu realisiert.

Die Politik hat die Wirklichkeit literarisiert. Aus dem Traum vom eigenen Vaterland, den plötzlich alle gehegt haben wollten, wurde ein international anerkannter Staat, dessen Führer nicht mehr den grauen Anzug des Kommunismus trug, sondern eine Phantasie-Uniform.

»Indem sie Worte in die Tat umsetzten«, so Ugresic, »bewegten sich also die ex-jugoslawischen Völker in einer anderen Dimension, einer 'mythischen Zeit', in der es keine Trennung zwischen existenten und nichtexistenten Welten gibt.« Nicht die Wahrheit, sondern die Literatur ist für Ugresic das erste Opfer des Krieges, weil die Grenze zwischen Wort und Leben, Fiktivem und Realem, zwischen der Sprache des Hasses und der physischen Gewalt beseitigt wurde.

Zu den wirkmächtigsten Metaphern gehört sicherlich die Rede vom »Völkergefängnis« Jugoslawien, aus dem sich die Eingeschlossenen nun gewaltsam befreien. »Die Kultur der Lüge« will nicht darauf hinaus, dass der politischen Lüge eine anthropologische Wahrheit gegenübersteht; die Autorin vertritt zum Beispiel nicht die Ansicht, dass der Selfmade-Kroate eigentlich ein authentischer jugoslawischer Staatsbürger sei, sie beschreibt lediglich die Funktion, die dem Metaphorischen im entfesselten Nationalkollektiv zugefallen ist: die Praxis des friedlichen Zusammenslebens nachträglich zu denunzieren und zu delegitimieren. Es geht also um die Dekonstruktion der hastig aufgestellten neuen Wahrheiten von Leuten, für die 50 Jahre lang die multinationale Gesellschaft eine Wahrheit besaß.

Das schönste Beispiel für die Umschreibung von Geschichte und Erinnerung - oder, wie Ugresic es in Anlehnung an einen Begriff aus der Debatte um Kindesmissbrauch nennt, für das false memory syndrome - handelt von einem Japanologen, der gesamtjugoslawische Kulturkreise über viele Jahre hinweg sanft mit Japan terrorisiert hat, sodass sich in ganz Jugoslawien Haiku-Gruppen bildeten, die wiederum Kurse in Ikebana und japanischer Poesie ins Leben riefen, eine Städtepartnerschaft zwischen Osaka und Varazdin initiierten und Open-Airs für Haiku-Lyrik durchführten. Heute beschwere sich der Urheber der ungewöhnlich erfolgreichen jugoslawischen Haiku-Kultur, er sei wegen seines Engagements für das kleine Poem in der Tito-Diktatur Repressionen ausgesetzt gewesen.

Das Buch handelt von Gewalttaten, nicht aber von den Kriegsgräueln, die von kroatischer Seite sowohl ausgeübt als auch erlitten wurden, sondern lenkt den Blick auf die Brutalität, mit der das kulturelle Zeichensystem umgebaut und das kollektive Gedächtnis manipuliert wurde. »Die Bürger«, schreibt sie, »werden ihr früheres Leben vergessen müssen, um Raum zu schaffen für ein neues«. Die kollektiv herbeigeführte Amnesie findet eine Entsprechung im Kult des Erinnerns an längst vergessene Volkshelden und Schlachten. Der Erinnerungsterror will die angeblich unterbrochene Kontinuität der kroatischen Identität und Historie wiederherstellen.

Ugresic schlägt vor, Kriegsrealität und nationale Formierung als literarischen Text zu lesen und nimmt die narrativen Strategien auseinander, deren sich Medien, Politik und Kultur bedienen, um diese Wirklichkeiten herzustellen. Sie argumentiert klug und besitzt zudem die ziemlich seltene Fähigkeit, Ich zu sagen - unaufdringlich, aber entschieden. »Ich!« lautet eine Kapitelüberschrift, »Ich wurde im fünften Dezennium des 20. Jahrhunderts (...) geboren« ist die erste Zeile des Vorworts. Das Formprinzip ist Statement und Strategie gegen das »Wir«, das »Vaterland«, die »Institutionen«, die »schützenden Zauberformeln, die vor der Gefahr des individuellen Handelns bewahren« sollen.

Ugresic schreibt aus der Perspektive derjenigen, die sich wundert, die nicht versteht, was da eigentlich passiert. Aus dieser Haltung heraus gelingt es, die Ungeheuerlichkeit des Selbstverständlichen bloßzulegen, und selbstverständlich geworden ist binnen kurzer Zeit die Behauptung von Politikern und Durchschnittsbürgen, Kroate zu sein, die Heimat zu lieben und deren Feinde zu hassen. Ihre Texte sind ein Akt der Selbstverteidigung gegen das Normale und zugleich eine Verteidigung der Literatur, die gegen das neu errichtete paranoide Kommunikationssystem in Schutz genommen wird. »Die Kultur der Lüge« ist ein großartiges und noch immer wichtiges Buch, das konsequente Anti-Politik betreibt.

Dubravka Ugresic: Die Kultur der Lüge. Suhrkamp, Frankfurt 1994, 302 S., DM 24,80