Zum Tode Aaliyah

Are You that Somebody?

Aaliyah stand für Ambition, Vielfalt, Regelbruch, ständige Erneuerung, Bewegung, Generosität und Stil.

Er hat es wieder mal als erster mitbekommen. In Quentin Tarantinos »Jackie Brown« von 1997 war neben »Street Life« von Randy Crawford auch »Letter to a firm« von Foxy Brown zu hören. Für manch einen Intellektuellen mit Hang zum fortschrittlichen Film mag diese Musikauswahl ein Schock ersten Grades gewesen sein. Repräsentiert doch Foxy Brown das schwarze Amerika, das selbst Anhänger der Demokratischen Partei aus tiefstem, puritanischem Herzen mit einem schwarzen Balken versehen möchten.

We Need A Resolution

Der schwarze Hipster aus dem Subproletariat, ob männlich oder weiblich, verkörpert das uneingelöste Versprechen der antirassistischen Demokratie. Er nimmt sich einfach das, was die Gesellschaft ihm als Belohnung nach gelungener Integration in die Arbeitsgesellschaft anpreist - ohne den anstrengenden Umweg durch die Fabrik zu beschreiten. Geld, Luxus und Stil sind für ihn keine Wünsche, die sein Leben lang unerfüllt bleiben werden. Sie sind vielmehr unvermittelt bzw. durch unmittelbare Gewalt vermittelt erreichbar. Damit bricht er zwar mit jedem Ideal des Bürgerlichen, nicht jedoch mit dessen unreflektierter Existenzgrundlage der Gewalt.

Was der Bürger an ihm so sehr hasst, ist folglich das Eigene, welches er an der Person des Hipsters oder Gangsters unverstellt wiedererkennt. Der Mainstream könnte sie einfach als unzivilisierte Rabauken abtun, würden sie nicht die Statussymbole, welche der Mittelständler sich durch Ratenzahlung und Lotterie anzueignen trachtet, prahlerisch und stolz mit sich herumtragen bzw. -fahren.

Loose Rap

Musikgeschmäcker - das ist das Dumme an ihnen - grenzen sich durch so genannte Distinktion mit dem Merkmal moralischer und/oder ästhetischer Reinheit gegeneinander ab. In den letzten Jahren ist es im deutschen Feuilleton hip geworden, diese Grenzen plakativ einzureißen. Nach dem pflegeleichten HipHop aus den deutschen Vororten kam die NuMetal- und Punk-Attitüde, und der momentane Verkaufsschlager ist der wahlweise avantgardistische oder intelligente US-amerikanische Soul, R&B und HipHop. Es scheint, als hätten sich die publizistischen Trendsetter dazu entschlossen, eine bestimmte Art von Musik aus der kommerziell-jugendkulturellen Ecke in die vermeintlich feingeistig-bildungsbürgerliche zu holen. Jegliche Historizität der Musik geht dabei unter. In den letzten Monaten gab es einige lohnenswerte Neuerscheinungen aus dem Soul, R&B und Soft-HipHop-Genre. Nur leider haben sie nahezu alle die falschen Fans. Aber: Kann eine Musik überhaupt die falschen Fans haben?

Rock Da Boat

Sie hat sie. Der simple Trick besteht darin, die Entwicklung eines Musikstils des Verrats an seinen Wurzeln zu bezichtigen. Im ersten Fall wird sie in die Ecke des üblen Kommerzes gerückt und als unhörbar deklariert. Die links-alternative Prüderie und die Indie-Liedermacher-Ärmlichkeit haben dieser Entwicklung die Krone aufgesetzt. Gerade Soul und R&B haben aber nicht ihre Geschichte vergessen - auch nicht die des Blues und Jazz, des Swing und des Gospel - , sondern schreiben sie nur konsequent weiter, im Guten wie im Schlechten. Die Frage nach dem Ausverkauf hat sich erledigt. Was bleibt, ist die Musik. Und die ist gut.

More Than A Woman

Hat ein Musikstil seine Wurzeln nicht verraten, kann er nur noch zu ihnen zurückkehren. Genau das macht R&B aber auch nicht. Künstlerinnen wie Erykah Badu (»Mama's Gun«), Kelis (»Kaleidoscope«), Angie Stone (»Black Diamond«), Jill Scott (»Who Is Jill Scott?«) und Macy Gray (»On How Life Is«) sind alles andere als das Gegenteil des im linksliberalen Café-Feuilleton so verhassten Soul und R&B der Achtziger und Neunziger. Sie treten eigentlich nur in die Fußstapfen von Neneh Cherry oder setzen Janet Jacksons Album »Velvet Rope« (1997) fort. Darauf versuchen sie, die Modernität des R&B mit Bezügen auf die afro-amerikanische Historie anzureichern und mit dem sexuellen und homophoben Rigorismus der Community zu brechen.

Never No More

Die Ausdifferenzierung, Vereinnahmung und Zusammenführung sich scheinbar abstoßender und ausschließender künstlerischer Stile sind die Stärke der so genannten Black Music und machen ihren Reichtum aus. Diese Besonderheit - in gewisser Weise eine Grenzenlosigkeit und Unbeschränktheit - resultiert nicht zuletzt aus der spezifischen Situation der Afro-Amerikaner. Zudem hat sie zu tun mit ihrer Diskriminierung, aber auch mit der Ambivalenz gegenüber einer Gesellschaft, zu der man gehören will, aber nicht kann. Zudem war und ist die (Pop-) Kultur wie der Leistungssport eine der wenigen Nischen, in denen sich die Ausgeschlossenen ihren Lebensunterhalt verdienen können, ohne kriminell werden zu müssen. Der Ehrgeiz des künstlerischen Schaffens wird durch das Versprechen der Integration gefördert. Kunst entsteht aus Gewalt und nicht aus der Liebe zur Welt.

I Care 4 U

Weil die afro-amerikanische Musik keinerlei Berührungsängste gegenüber neuen Einflüssen hatte, konnte sie eine Heterogenität herausbilden, die vom Sammelbegriff der Black Music nur in naiver und unzureichender Form erfasst werden kann. Während Gospel und Blues sich immer wieder auf ihre künstlerische und soziale Herkunft, auf die schwarze Geschichte der Versklavung und Unterdrückung beriefen, versuchten Soul, R&B und zuletzt HipHop, die Traditionalismen des rigiden Kollektivs hinter sich zu lassen und in die gutbetuchte Mittelschicht mit all ihren Statussymbolen vorzudringen.

Der so genannte Gangsta-HipHop hat dabei, unverantwortlich wie kein anderer Musik-Stil, die Gewaltförmigkeit des Tauschverhältnisses affirmiert, die Bewusstlosigkeit des spätbürgerlichen Nachwuchssubjekts reproduziert und, etwa durch Public Enemy, den inneramerikanischen Antisemitismus von unten befördert. Der von Linken und Linksradikalen oftmals so geschätzte Polit-Crossover und auch der NuMetal (z.B. Limp Bizkit oder Papa Roach) bedienten sich dabei nicht nur des Rap als stilistischer Form, sondern brachten durch ihre »Brother against Brother«-Philosophie die urbane Straßenkampf-Attitüde sogar noch zur Vollendung.

Während es im Gangsta-HipHop zumindest noch um die Verteidigung von Gebrauchswerten und einer ominösen Homie-Ehre geht, setzt der Streetfight-Hardcore in seiner entpolitisierten Variante nur noch auf das grundlose Pöbeln gegen Jedermann.

Remember: Der erste Crossover-Song hieß »Walk this way« von Run DMC und Aerosmith 1986.

Extra Smooth

Aaliyah stand für die Überschreitung und den Ausbruch aus der Attitüde. Den spielerischen Umgang mit musikalischen Zeichen, das Zusammenspiel und das Arrangement von Zitat und Erneuerung beherrschte sie perfekt.

Sie wuchs in Brooklyn und Detroit auf. Als Kind sang sie in Schul- und Kirchenchören, im Alter von neun Jahren nahm sie an ihrem ersten Talentwettbewerb teil. Ihr Onkel war mit der Souldiva Gladys Knight verheiratet, die die elfjährige Aaliyah auf die Bühne holte, um mit ihr ein Duett zu singen. Als Aaliyah 15 war, besorgte der Künstler R. Kelly ihr den ersten Plattenvertrag und schrieb die Stücke für ihr erstes Album »Age Ain't Nothing But a Number« (1994). Nach Gerüchten über eine Affäre zwischen R. Kelly und Aaliyah entfernte ihre Familie sie aus seinem Umfeld und schickte sie auf die Detroiter School for Performing Arts. Das von Timbaland produzierte zweite Album »One In a Million« (1996) steigerte dann auch in Europa ihren Bekanntheitsgrad. »Aaliyah« war ihr drittes Album.

Read Between The Lines

Auf ihrem neuen Album herrscht ein experimenteller Gestus vor, der sich nicht scheut, Anleihen bei asiatisch anmutenden Sounds oder im Minimalismus zu suchen. Im Unterschied zu den vielen anderen R&B-Sängerinnen, sei es Beyoncé von Destiny's Child oder Erykah Badu, die selbst Songs schreiben und produzieren, verzichtete Aaliyah darauf, außer ihrer Stimme und ihrer Präsenz etwas zu ihren Stücken beizutragen.

Nun war Aaliyah nicht nur Sängerin, sondern auch Schauspielerin. In »Romeo Must Die« gab sie das rebellierende Girlie, das mit den Konventionen der schwarzen Community bricht und gegen ihre mafiöse Clan-Familie anrennt, auch weil sie sich in den Erzfeind des Vaters verliebt hat. Der Film war langweilig, auch wenn er HipHop, Hollywood und Hongkong verband. Das Stück »Try again« vom Soundtrack dagegen umso prächtiger. Durch die Verbindung von so unterschiedlichen Momenten wie Martial Arts, HipHop und dem knarzigen Sound eines Roland 303-Synthesizers, der legendären Acid-Maschine, kündigte dieses Stück an, welches Potenzial der moderne R&B noch in sich trägt.

U Got Nerve

Aaliyahs Biografie, die sich zwischen tristen Downtownvierteln und begrünten Vororten abspielte, mündete in eine künstlerische Neugier, die auf Attitüde, Distinktion, Reinheit, Begrenztheit, Berechtigung keinen Deut gab. Ihr Privatleben schirmte sie dagegen von der Öffentlichkeit ab: »Wenn du diese Mauern hochziehst, dann gibt es sie aus gutem Grund. Und die richtige Person wird in der Lage sein, diese Mauern zu überspringen, zu dir dringen und dir nahe kommen«, sagte sie.

Am 25. August starben Aaliyah und ihre sieben Begleiter nach einem Flugzeugabsturz. Die Maschine, die kurz nach dem Start am Boden zerschellte, sollte sie von einem Videodreh auf den Bahamas zurück in die USA bringen. Die genaue Unfallursache ist ungeklärt. Mal heißt es, ein Motor sei ausgefallen, mal, dass zu viel Gepäck an Bord gewesen sei. R. Kelly soll schon in dem Flugzeug gesessen haben und dann im letzten Augenblick ausgestiegen sein, weil er noch ein paar Stunden auf den Bahamas verbringen wollte. Aaliyah wurde 22 Jahre alt. Für ihr Begräbnis sperrte die New Yorker Polizei mehrere Straßenzüge.

»Aaliyah« ist ein Begriff aus dem Suaheli und bedeutet soviel wie »die Vollkommene« oder »die Unerreichbare«. »Die Erhabene« und ihre Produzenten gehörten mit »One in a million« Mitte der Neunziger zu den ersten, die den modernen R&B und den Soul mit den Rhythmen des HipHop und dem Sprechgesang des weichen Rap verschmolzen. Aaliyah und ihre Musik verkörperten die besten Eigenschaften der Black Music: Bewahrung, Ambition, Vielfalt, den Mut zum Experiment, Jugendlichkeit, Regelbruch, ständige Erneuerung, Bewegung, Kosmopolitismus, Generosität, Charisma, Stil.

I Refuse

Als aufgeklärter Mensch hätte man sich fragen können, warum Aaliyah und ihre Crew während der Pressetermine von »der elegant gekleideten Security-Garde der afroamerikanischen Sekte Nation of Islam« (Wom Journal) bewacht wurden. Andererseits aber sollte man sich ihr aktuelles Album schon alleine deshalb holen, weil die Bilder im Booklet sehr hübsch und gar nicht islamistisch geworden sind.

If Whatever

Musik, die streng sich selbst gegenüber zu sein hat, hat sich gegen die auferlegte Strenge und das verordnete Verschlossensein zu richten. Die so genannte Subkultur, der ganze Underground, die selektive, im Kollektiv stattfindende Fan-Betrachtung der Mainstreamkultur und die sich anschließenden beliebigen, aber bezeichnenden Hypes angeblicher Subversion sind bürgerlicher bzw. kleinbürgerlicher, als die bürgerliche Kultur es jemals sein kann. Das einzige, was sie im Sinn hat, ist die Herstellung umklammernder Identität, die Herausbildung von Masse, die sich in ihrer belanglosen Verschrobenheit auch noch cool und anders fühlt.

Die Subkultur ist zu ihrem größten Teil konservativ. Sie bewahrt, pflegt und hegt das Alte, das Wohlbekannte, das Schon-Immer-Gewusste und nicht zuletzt das Langweilige. Dem Neuen, dem Ungewohnten, dem Hereinbrechenden, dem Verunsichernden, dem Aufregenden, dem Grenzüberschreitenden, den letzten Resten der Leidenschaft misstraut sie, weil sie sich in ihrem geistigen Viertel ganz gemütlich eingerichtet und verbarrikadiert hat.

Deshalb trifft der beliebte Vorwurf des Ausverkaufs, der Kunstferne an die Adresse vor allem des Soul, des R&B und HipHop - nach dem der Punk leider keine Zustellanschrift mehr hat - nicht nur nicht den Richtigen. Man sollte ihn umdrehen und an diejenigen zurückgeben, die ihn erheben. In und mit den Mitteln der Kulturindustrie kann die wirklich spießige Bedächtigkeit, die Lustfeindlichkeit, das Ressentiment und der darin enthaltene Verdacht gegen die Sinnlichkeit entmachtet werden. Aaliyahs Musik arbeitet mit an der Abschaffung der Dummheit und der selbstverschuldeten Hässlichkeit der Welt und ihrer BewohnerInnen.

I Can Be

Perfiderweise wird der Vorwurf des R&B-Verrats an seinen Wurzeln sehr gerne kombiniert mit dem des Verrats an der Community. Dass darin nur ein umgekehrter Rassismus steckt, wollen die Ankläger natürlich nicht wissen: Die schwarze Gemeinde wird als eine warme, gefühlvolle, bisweilen matriarchalische dargestellt. Als hätte es vor dem Auftauchen des waffenstarrenden Gangsta-HipHop keinerlei Brutalität untereinander gegeben, keine familiäre Enge und provinzielle Engstirnigkeit, keine religiösen Atavismuskulte und keine frauenverachtende Disziplinierung, keinen Hass auf Außenseiter.

Try Again

Obwohl gerade in der Black Music die Grenzen nicht eindeutig zu definieren sind, haben die Protagonisten ihrer konsequenten Weiterentwicklung ihr Refugium in der Kulturindustrie des Mainstreams gefunden. Und nicht in der des Undergrounds.

Aaliyah: Aaliyah (Virgin)