20. Todestag von Rainer Werner Fassbinder

Die schöne Angst

Die radikale Haltung gegenüber seinen Stoffen zeichnete Rainer Werner Fassbinder aus. Zum 20. Todestag des Regisseurs sind seine Filme wieder im Kino.

Für mich sind Frauen nicht nur dazu da, Männer in Gang zu setzen, diese Objektfunktion haben sie nicht. Ich zeige eben, dass die Frauen mehr als Männer gezwungen sind, zu zum Teil ekelhaften Mitteln zu greifen, um dieser Objektfunktion zu entgehen.« Mit Äußerungen wie dieser machte sich Rainer Werner Fassbinder zum etwas altklugen Cineastenschreck. Aber er wusste immer, »welche Optik er für welche Emotion benützen muss«, und in seinen Filmen hat er, wie er selbst einmal sagte, »auch den so genannten kleinen Leuten große Gefühle« zugestanden.

Starke Frauen (»Maria Braun«, »Lola«, »Lili Marlen«), schwache Frauen (»Martha«, »Veronika Voss«), geschlagene Männer (»Händler der vier Jahreszeiten«, »Despair«), Mütter (»Mutter Küsters Fahrt zum Himmel«), Homosexuelle, Stricher und Transen (»Faustrecht der Freiheit«, »In einem Jahr mit 13 Monden«) hat er ins Zentrum seiner Filme gerückt und dabei nie die deutsche Realität aus den Augen verloren. Deutsche Geschichte und Gegenwart zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Keiner hat wie er das filmische Bild der deutschen Nachkriegsgesellschaft geprägt. Und auch wenn sie sich in die Vergangenheit verbeißen, seine Filme handeln immer von der Gegenwart. Er kritisierte die Schwächen, die Kleinmütigkeit, die mangelnde Liebesfähigkeit und das egoistische Wohlstandsdenken des deutschen Kleinbürgers, das sich vom Ende der Weimarer Republik über die Adenauer-Zeit bis zur Ära Schmidt fortsetzte.

Fassbinders Sehnsucht, dass seine Filme »irgendwann einmal aufhören, Filme zu sein« und »anfangen, lebendig zu werden, dass man fragt, wie sieht das eigentlich mit mir und meinem Leben aus«, hat sich erfüllt. So, als hätten sie ihn beim Wort genommen, beschäftigen sich Filmwissenschaftler und Cineasten mit Fassbinder, der unablässig an der Analyse der Zeit, seiner selbst und seines Umfelds gearbeitet hat. Hatte zu Lebzeiten sein Werk sein Leben verschlungen, so war es nach seinem Tod umgekehrt. Die Legendenbildung über sein Leben verschlang sein Werk. Beispielsweise in Peter Berlings Buch »Die 13 Jahre des RWF«, das Fassbinders Lebens- und Arbeitsstil als Produktionsmoloch beschreibt, der »jeden verschlang«. Äußerungen wie: »Film war ihm eine Form der Therapie, bei der er seine Identität auf glamouröse Männer und Frauen projizieren konnte, die seine Sätze sprachen und seinen Anordnungen gehorchten«, tragen auch nicht gerade zu einer realistischen Wertschätzung bei.

Sieht man in anderen Filmen deutsche Landschaften, so bei Fassbinder, der als realistischer Stilist das Studio bevorzugte »eine ganze Reihe von Klassen und sozialen Milieus«. Ein Spezifikum, das der Amsterdamer Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser als »immense Lust an der Darstellung des Lebens in Deutschland« beschreibt. Einen anderen interessanten Aspekt verfolgt Elsaesser in seinem jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Buch. Da heißt es, den Mythos des »vollendeten Literaturverfilmers« (Fontane, Nabokov) zurechtrückend: »Selbst wenn er häufig mit Balzac verglichen wurde, sollte man sich daran erinnern, dass Fassbinders Filme, trotz ihrer zahlreichen internen Echos, kein autonomes, fiktionales Universum erschaffen, sondern Medienwelten, das heißt visuelle und akustische Referenzräume für Zeitungsnachrichten, Pressefotografien, populäre Musik und vor allem andere Filme«.

»Mutter Küsters Fahrt zum Himmel« (1975) ist ein gutes Beispiel für Fassbinders überragendes Talent, von der Ausbeutung menschlicher Gefühle zu erzählen. Heute funktioniert der Film, der neben einer Handvoll anderer in öffentlichen Video-Bibliotheken zu finden ist, als Lehrstück über bundesrepublikanische Politik und Medien der siebziger Jahre. Der tragische Tod eines Arbeiters, der wegen drohender Massenentlassungen einen Vorgesetzten und dann sich selbst erschossen hat, führt die Frau des so genannten Fabrikmörders in den Medienrummel um den spektakulären Fall. Brigitte Miras Plädoyer auf einer Veranstaltung der DKP gerät zu einer fernsehreifen Lektion in Sachen Menschlichkeit, die - ironischerweise - einem TV-Wort zum Sonntag in nichts nachsteht. Das Medienmelodram wurde von seinen Kritikern als »böse, ungerechte Abrechnung mit der deutschen Linken aller Schattierungen bezeichnet«. Heute wirkt sein spöttisches Aufmucken gegen die Spießigkeit des Presse-Milieus und der linken Szene indessen weit realistischer als damals.

Verdienstvoll an Thomas Elsaessers Buch ist, dass er die Sympathie wahrt für einen in jeder Hinsicht sperrigen Regisseur, der von der politischen Linken nie ernst genommen wurde. Manchmal scheint es, als sollte RWF als politischer Regisseur zu neuen Ehren kommen. Seine Themen waren Klassenverhältnisse, ethnische Fragen, Hautfarbe, politische Meinungsbildung und sexuelle Identität. Fassbinders spezielles Politikverständnis kommt in der eigentümlichen Art seines Minderheitenkinos zum Ausdruck. »Die wiederkehrenden Motive, die bekannten Anordnungen und Metaphern in seinen Filmen buchstabieren eine Obsession, ein Trauma, das er bewusst nicht abschütteln wollte.« Fassbinder erkannte, schreibt Elsaesser, den vollen Wert einer Angst, »die ihn zugleich produktiv und hellsichtig für die ihn umgebende Gesellschaft machte.«

Nicht weil er so produktiv war und rund 50 Filme in 13 Jahren oder weil er Meisterwerke drehte, ist Rainer Werner Fassbinder einer der spektakulärsten deutschen Regisseure. Die Bedeutung seiner Filme liegt weniger in einzelnen Werken, als vielmehr in der radikalen Haltung, mit der er an seinen Stoffen gearbeitet hat. Davon geht auch die jüngst vom Basis-Film Verleih Berlin in Umlauf gebrachte Filmreihe aus. Mit 15 langen und zwei frühen Kurzfilmen gibt sie ein Beispiel für die schon oft beschriebene immens kreative Kraft.

Ausschlaggebend für die Auswahl der Filme waren Fragen nach der Wechselwirkung zwischen den künstlerischen Mitteln und dem Zustand der Gesellschaft. Ein interessanter Aspekt, denn in Fassbinders Filmen »kreuzen sich die Tendenzen und Widersprüche dieses Jahrzehnts des Übergangs vom politischen zum psychologischen Diskurs«, heißt es in einer Bestandsaufnahme zum Film der siebziger Jahre.

Beispielhaft dafür kann Fassbinders Beitrag in dem von Alexander Kluge initiierten Episodenfilm »Deutschland im Herbst« (1977) betrachtet werden. Alle Episoden zusammen vermitteln etwas von der Angst und Paranoia, die Ende der siebziger Jahre in Deutschland herrschten, allein Fassbinder gibt in seinem Beitrag ein sehr persönliches Statement. Er befragt seine Mutter, die unter dem Namen Lilo Pempeit in zahlreichen seiner Filme mitgespielt hat, nach ihrer politischen Meinung. Ein »autoritärer Herrscher«, kein Hitler, sondern ein »guter«, bekennt sie nach langem Bohren, wäre ihr angenehm, womit Fassbinder eine gewisse Verbindung zwischen der Bundesrepublik und der faschistischen Vergangenheit herstellt. Mehr als die anderen beteiligten Regiekollegen lässt Fassbinder sein Gefühl von Ohnmacht spürbar werden.

Nach seinem Beitrag für »Deutschland im Herbst« drehte Fassbinder »Die Ehe der Maria Braun«, seinen national und international erfolgreichsten Film. Die Geschichte einer »selbstbewussten, im Geschäft und in der Liebe konsequenten« Frau variiert das Verhältnis von Geld, Gewalt und Liebe in der Nachkriegszeit, jener kurzen Episode, in der die Initiative der Frauen gefragt war. Ironischerweise endet die Karriere der Maria Braun just an jenem 4. Juli 1954, dem Tag, an dem Deutschland in Bern den Fußball-Weltmeister-Titel errang und die Deutschen sich erstmals wieder als Sieger fühlten.

Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder. Bertz Verlag, Berlin, 2001, 536 S., DM 48,90.

»Warnung vor einer heiligen Nutte - Kino oder Leben« heißt die Filmreihe mit 15 Spiel- und zwei Kurzfilmen, die der Basis-Film Verleih Berlin in Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder-Foundation zu seinem 20. Todestag herausgebracht hat.