Proteste gegen die Globalisierung

Im militanten Hochdruckgebiet

Gewalt ist Teil der Gesellschaft und Ausdruck jeder sozialen Bewegung. Nicht Militanz muss infrage gestellt werden, sondern die Art und Weise, wie sie eingesetzt wird.

Dass wir die Polizeigewalt verurteilten, die mit dem Mord an Carlo Giuliani nicht angefangen hatte und mit dem Überfall auf das Indymedia-Zentrum und die gegenüber liegende Schule längst nicht endete, das konnten fast alle bürgerlichen JournalistInnen noch verstehen. Pflichtübung, Ritual, war ja auch schlimm. Geschenkt.

Aber was hält Attac davon, dass DemonstrantInnen plündernd und zerstörend durch Genua zogen, die nur an Randale und der Höhe des Sachschadens, jedoch kein bisschen an Politik interessiert waren? Nichts? Natürlich hielte ich nichts von solchen Aktionen. Wenn es denn so einfach wäre.

Gewiss gab es in Genua neben Polizeiprovokateuren auch andere, die einfach nur Lust hatten, etwas kaputt zu machen. Und die Vermutung, dass auch die Maoisten von der Rim nicht weit entfernt waren, ist nicht sehr gewagt. Selbstverständlich war ein beträchtlicher Teil des militanten Verhaltens der Polizeirandale geschuldet. Aber auch ohne sie gab es Militanz in Genua. Und da endet die einfache Weltsicht, die zwischen Verantwortlichen, Gewaltfreien, Politischen und Hohlköpfen, Desperados, Hooligans unterscheidet.

Der Koordinierungskreis von Attac in Deutschland bemühte sich schon nach den Polizeischüssen von Göteborg um eine differenziertere Sicht. Die von ihm verabschiedete Erklärung war ein vorsichtiger Kompromiss verschiedener Sichtweisen. Attac lehnt Gewalt als Mittel seiner Politik ab, distanziert sich aber nicht von denen, die das anders sehen. Vielmehr wird eine Verständigung auf den genauen Charakter einer jeden Aktion zur Bedingung bündnispolitischer Einigung gemacht und die Einhaltung solcher Übereinkünfte gefordert.

In einem taz-Kommentar legte Peter Wahl, der mit mir Autor der Attac-Erklärung war, seine Interpretation dar. Militanz sei die Scheidelinie zwischen der »großen Mehrzahl derjenigen, die eine andere Form des Internationalismus wollen als den der neoliberalen Globalisierung« und »jenen Protestierern, die Gewalt oder eine staatliche Gewalt provozierende Militanz in ihr politisches Kalkül einbeziehen«. Ihnen wirft er vor, im Zusammenspiel mit dem Staat zugunsten des Gewaltthemas »alles Inhaltliche zu marginalisieren«. »Militanz«, schreibt er, »verhält sich unter den gegenwärtigen Bedingungen parasitär zum staatlichen Gewaltmonopol.« Und: »Mit dem Hineintragen von Militanz in eine soziale Bewegung diktiert man dieser den Charakter ihrer Aktionsformen, ohne sich der Mühe demokratischer Überzeugungsarbeit unterziehen zu müssen.«

Hier wird nicht nur das Verhältnis von Gewalt und Gegengewalt (anders als in der Attac-Erklärung) auf den Kopf gestellt, sondern auch die Dialektik von Form und Inhalt völlig verkannt. Selbst in Zeitungen wie der taz, dem Neuen Deutschland oder der Frankfurter Rundschau wurde darauf hingewiesen, dass es sehr wohl einen Zusammenhang zwischen Gewalt und kritischer Berichterstattung gebe. Wer sagt, dass Gewalt sozialen Bewegungen immer geschadet habe, bemüht eine außerordentlich unhistorische und völlig unpolitische Betrachtungsweise.

Vielmehr ist es so, dass, geschichtlich gesehen, Gewalt in all ihren Formen - destruktiven wie wohl überlegten, begrenzten wie nützlichen - soziale Bewegungen einer gewissen Relevanz immer begleitet hat. Eine Gesellschaft wie die unsrige bringt auch destruktive Gewalt notwendig hervor.

Das heißt nicht, es sei unvermeidlich, dass ein Schüler Amok läuft oder Jugendliche zu Fußball-Hooligans werden. Aber reagierten gar keine Individuen mehr gewaltsam auf diese gewalttätige Gesellschaft, könnte man nur noch ihren endgültigen sozialen und moralischen Tod konstatieren. Alle, die sich gegen die Verhältnisse wehren, unternehmen damit etwas Richtiges, von dem sich niemand distanzieren kann, der tatsächlich die herrschenden Verhältnisse in all ihrer mörderischen Wirklichkeit verändern will.

Nicht die Frage der Mittel entscheidet, wer die PartnerInnen sind, sondern die Frage, wer und was bekämpft wird. Da sind bei vielen »gewaltfreien« NGO durchaus Zweifel angebracht. Jede Thematisierung der Gewaltfrage in abstrakter Allgemeinheit kann also nur damit beantwortet werden, dass Militante wie Militanz zu uns gehören. Die Frage nach der prinzipiellen Berechtigung der Gewalt stellt sich nicht. Das wäre so sinnlos wie die Frage nach der Berechtigung des Wetters; sie ist einfach da, solange die Voraussetzungen gegeben sind.

Etwas anderes ist es, ob im konkreten Fall Militanz das angebrachte politische Mittel ist. Da habe ich meistens meine Zweifel. Und ich habe sie immer dann, wenn Militanz aus der Situation, aus Wut, aus Frust entsteht, wenn die Folgen nicht bedacht werden, nicht von vornherein ein Ausweg eingebaut wird, und das Ganze in der Niederlage endet.

Und sicherlich besitzt Militanz einen schädlichen Charakter, wenn sie von kleinen Avantgarden stellvertretend angewandt wird, die sich keine Rechenschaft darüber ablegen, dass sie gewaltmindernd wirken müssten. »Jeder echte Revolutionär«, sagte uns 1974 Ernesto Cardenal, der damalige Sprecher der Sandinistischen Befreiungsfront in Nicaragua und spätere Kulturminister seines Landes, »lehnt Gewalt ab. Aber man hat nicht immer die Freiheit zu wählen.«

Deshalb ist es meistens kein Problem, sich über den Charakter von Aktionen zu einigen. Aber das verlangt, Absprachen und Kritik konkret auf den Fall zu beziehen und nicht zu generalisieren. Ein abstraktes Bekenntnis zu Militanz oder Gewaltfreiheit übersieht nebenbei die Vielzahl von real existierenden Vorstellungen, was Militanz, was Gewalt, was legitime Gegenwehr, was Gewaltfreiheit überhaupt sein sollen.

In der jüngsten Geschichte sozialer Bewegungen in Westdeutschland stehen die Anti-AKW-Bewegung der siebziger und die Friedensbewegung der achtziger Jahre für zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit Militanz - und für Erfolgsbilanzen, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten. Die Anti-AKW-Bewegung setzte bewusst darauf, dass unterschiedliche Aktionsformen, auch militante, möglich sind und akzeptiert werden, obwohl nicht alle sie anwenden. Sie respektiert das heute noch und war ausgesprochen erfolgreich damit, auch wenn die Bauplätze nur selten - in Wackersdorf immerhin - zur Wiese wurden. Das Atomprogramm wurde erst mal angehalten, weitere AKW wurden nicht gebaut, stabile, bis heute tragende Mehrheiten gegen Atomenergie geschaffen.

Die Friedensbewegung schwor in ihrer von SPD und DKP bestimmten Mehrheitsströmung auf geradezu penible Weise aller Militanz ab. Wenn man aber gleichzeitig behauptet, die Herrschenden planten den atomaren Weltuntergang oder nähmen ihn zumindest wissentlich in Kauf, ist man völlig unglaubwürdig, wenn man zu diesen Herrschenden lediglich »Bitte, bitte!« sagt. Und innerhalb eines Jahrzehnts war Deutschland kriegsfähig. Diese komplette Niederlage der Friedensbewegung ist nicht nur, aber auch auf dem Mist der Gewaltfreiheit gewachsen. Volksfeste sind eben selbst dann keine Politik, wenn ihre Organisatoren das behaupten.

Eine abstrakte Gewaltdebatte, die Distanzierung, Abgrenzung, meist auch Denunziation fordert, kann nur im Interesse derer sein, die die gewalttätigen Verhältnisse nicht ins Blickfeld rücken wollen. Lassen wir uns darauf nicht ein - bei aller notwendigen Kritik an Aktionsformen, die so leicht von Provokateuren, Durchgedrehten oder wem auch immer enteignet werden können.