Angriffe auf Kinder

Der Schulweg ist das Ziel

Seitdem die Auseinandersetzungen um Territorien in Nordirland auf den Rücken von Kindern ausgetragen werden, müssen sich Politiker beider Seiten wieder bemühen, eine Lösung zu finden.

Die Bilder verängstigter Schülerinnen, die vor den Angriffen militanter Protestanten fliehen, haben den nordirischen Konflikt auf dramatische Weise in ein neues Licht gerückt. »Machen wir uns nichts vor, jetzt heißt es Auge um Auge«, warnte Samuel Blair, einer der protestantischen Bewohner des Nordbelfaster Viertels Ayrdone, die in der vergangenen Woche versuchten, Kinder aus dem katholischen Teil des Bezirks mit Steinen und Brandbomben von ihrem Schulweg durch die von Protestanten bewohnte Ardoyne Road abzuhalten.

Tageland standen Anwohner Spalier, um gegen Kinder und Eltern zu protestieren, die sich das Recht nicht nehmen lassen wollen, den direkten Weg zur katholischen Holy Cross Mädchengrundschule zu wählen. Tosender Lärm begleitete die Mädchen sowie ihre Mütter und Väter, die von einem schweren Militär- und Polizeiaufgebot beschützt wurden. Nachts attackierten Loyalisten die Polizei und katholische Republikaner mit Steinen und Molotow-Cocktails. Zunächst hagelte es zwei Tage lang Pflastersteine auf die Eltern und Kinder, und am Mittwoch explodierte in der Mitte des Zuges eine Rohrbome, die vier Polizisten verletzte.

Zu dem Anschlag bekannten sich die paramilitarischen Red Hand Defenders, ein Deckname der militanten loyalistischen Ulster Defence Association (UDA), die zahlreiche Sympathisanten in dem protestantischen Wohngebiet hat. In letzter Zeit hieß es, der nordirische Friedensprozess werde an der Entwaffnung der IRA scheitern. Die bewaffneten loyalistischen Paramilitärs wurden zumeist nicht einmal erwähnt.

Seit dem vergangenen Freitag haben sich die Loyalisten zwar auf »stille Proteste« am Rand des Schulweges beschränkt. Doch nach wie vor wollen sie ihr vermeintliches Anrecht auf Gebiete im Norden Belfasts behaupten. Die Schweigeproteste, so heißt es, geschehen zum Andenken an Thomas McDonald. Der 16jährige Sohn bekennender Loyalisten wurde am vergangenen Dienstag in einem anderen Stadtteil, zwei Kilometer von der Holy Cross Schule entfernt, von einem Auto verfolgt und überfahren. Eine 32jährige Frau wurde kurz darauf unter Mordverdacht festgenommen, nachdem McDonald im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen war.

Republikanische wie loyalistische Vertreter bekundeten ihre Abscheu vor den Angriffen. Gerry Adams, der Vorsitzende der Sinn Fein, die der IRA nahe steht, betonte beim Besuch der Holy Cross Schule, kein noch so verzwickter Konflikt rechtfertige die Gewalt gegen Kinder. Er machte die britische Regierung für den Schulkonflikt verantwortlich. Billy Hutchinson, ein loyalistisches Mitglied der Nordirland-Versammlung, sagte, angesichts der Ereignisse schäme er sich, Loyalist zu sein. So besteht zumindest die Hoffnung, dass die Kritik aus den eigenen Reihen diejenigen beruhigen könnte, die vier- bis elfjährige Kinder als »republikanischen Abschaum« beschimpfen.

Ein Blick auf den Stadtplan macht den Widersinn des Konflikts deutlich. Der Weg durch die Ardoyne Road ist nur unwesentlich kürzer als ein möglicher Umweg, auf dem die Kinder sicher zur Schule gelangen könnten. Zwar betonen die Eltern aus den katholischen Gebieten, es gehe einzig und allein um das Recht ihrer Kinder, unbehelligt zum Unterricht zu kommen. Doch aus ihren Äußerungen spricht immer wieder der Unwille, auch nur kleinste Straßenabschnitte der protestantischen Bevölkerung zu überlassen. Die Protestanten ihrerseits werfen den Katholiken vor, ihre Kinder für politische Ziele zu instrumentalisieren.

Der aktuelle Konflikt liegt teilweise in der einzigartigen Aufteilung Belfasts begründet. Anders als im restlichen Teil der Provinz, wo Protestanten und Katholiken in klar abgegrenzten Gebieten leben, gleicht Nordbelfast einem Flickenteppich von Territorien der miteinander verfeindeten Bewohner. Ardoyne ist zum einen der Wohnort vieler IRA-Mitglieder und ihrer Sympathisanten, die dem Friedensprozess in Nordirland kritisch gegenüberstehen. Gleichzeitig befindet sich in dem Viertel aber auch die kleine protestantische Enklave Glenbryn, wo sich die Proteste konzentrierten.

Nachdem es 1969 zu schweren Krawallen gekommen war, hatten viele Protestanten das Viertel verlassen. Die verbliebenen protestantischen Einwohner glauben nun, die lokalen IRA-Mitglieder würden die Situation ausnutzen, um sie zu vertreiben. Auf katholischer Seite hingegen fürchtet man sich vor Übergriffen der radikal loyalistischen UDA. Ihr Vorsitzender, Johnny Adair, war in den frühen neunziger Jahren für zahlreiche Morde an Katholiken politisch verantwortlich.

Die derzeitigen Unruhen bahnten sich allerdings schon vor der alljährlich im Juli stattfindenden Paradesaison des loyalistischen Oranierordens an, bei denen es regelmäßig zu Ausschreitungen kommt, wenn radikale Loyalisten versuchen, durch katholische Gebiete zu ziehen. Protestanten aus Glenbryn gaben an, von Katholiken attackiert worden zu sein, als sie Werbeflaggen für die umstrittenen Märsche anbringen wollten. Als Reaktion blockierten sie die katholische Mädchengrundschule. Das Versagen der lokalen politischen Vertreter der beiden Konfliktparteien, vermittelnd in die Streitigkeiten einzugreifen, sowie der stockenden Friedensprozess sind die Gründe, warum die Auseinandersetzungen zu Beginn des neuen Schuljahres derart eskalierten.

David Trimble, der Vorsitzende der Ulster Unionist Party (UUP) und ehemaliger Erster Minister der Selbstverwaltung der nordirischen Provinz, warnte davor, dass die Art der Proteste Nachahmer in anderen Gebieten finden könne. Trimble war im Juni aus Protest gegen die ausbleibende Entwaffnung der IRA von seinem Amt als Erster Minister zurückgetreten. Nach seiner gescheiterten Wiederwahl Ende August suspendierte die britische Labour-Regierung die nordirische Selbstverwaltung für sechs Wochen. Vor der nächsten möglichen Wahl eines neuen Ersten Ministers am 23. September wird nun befürchtet, dass ein Andauern des Konfliktes um die Holy Cross Schule dem Friedensprozess weiter schaden könnte.

Die Waffen der IRA waren bisher das stärkste Argument der Unionisten. Nun könnten David Trimble und Ian Paisley von der Democratic Unionist Party (DUP) auch die im Londoner Unterhaus bereits verabschiedete Polizeireform unter Beschuss nehmen. Sie sieht vor, dass die Polizeikräfte in Nordirland paritätisch aus Protestanten und Katholiken zusammengesetzt sein müssen. Eine gemeinsame Kampagne der beiden größten unionistischen Parteien gegen einen der zentralen Punkte des Karfreitagsabkommens könnte den Friedensprozess noch weiter ins Schwanken bringen. Die DUP und Hardliner aus der UUP haben Trimble bereits erfolgreich davon abhalten können, unionistische Delegierte zu benennen, die die Reform gemeinsam mit republikanischen Kollegen überwachen sollten.

Es ist zwar nicht zu erwarten, dass die Unionisten die Reform vollkommen ablehnen werden, doch sie versuchen momentan offensichtlich, sie zu ihren Gunsten zu verwässern.Auch die Sinn Fein lehnt die Reform bisher ab, da ihr die Veränderungen zugunsten der katholisch-republikanischen Mitbestimmung nicht weit genug gehen. Die IRA hatte ihr mittlerweile zurückgezogenes Entwaffnungsangebot stets an radikale Veränderungen gebunden.

Inzwischen meldeten sich auch die vermeintlichen IRA-Terroristen zu Wort, die in Kolumbien unter dem Verdacht festgenommen wurden, an der Ausbildung von Guerilllakämpfern beteiligt zu sein. In einem Interview mit einem kolumbianischen Fernsehsender gaben die Festgenommenen an, sie hätten lediglich Informationen über den Friedensprozess in Kolumbien sammeln wollen. Der Terrorismusvorwurf sei von den Geheimdiensten erfunden worden, um den Friedensprozess in Nordirland zu torpedieren. Tatsächlich bereitet die Affäre der Sinn Fein erhebliche Glaubwürdigkeitsprobleme.