Sven Regeners »Herr Lehmann«

Dreißig in Kreuzberg 36

Der Mauerfall war okay, lernt man aus Sven Regeners »Herr Lehmann«.

Im Nachhinein kann man sich eigentlich nur noch wundern. Es gab tatsächlich einmal Demonstrationen gegen die Wiedereröffnung der Oberbaumbrücke, der Verbindung zwischen Kreuzberg und Friedrichshain. Dabei ging es nicht darum, dass zwar Straßenbahnschienen auf der Oberbaumbrücke liegen, aber gar keine Straßenbahnlinie Kreuzberg und Friedrichshain verbindet, und auch nicht darum, dass, seitdem zur Widereröffnung eine Bahn den damaligen Bürgermeister Eberhard Diepgen über die Brücke brachte, nur noch Autos über die Schienen fahren. Nein, die Demonstrationen hatten zum Ziel, dass Kreuzberg eine Insel bleibe. Keine Öffnung nach Osten, Kreuzberg muss in Kreuzberg erkennbar bleiben.

Ganz am Schluss von Sven Regeners Roman »Herr Lehmann« steht der titelgebende Protagonist an eben jener Oberbaumbrücke, es ist der 9. November 1989 und er ist ratlos. Eine Frau, die gerade aus dem Osten gekommen ist, sagt: »Das sieht hier ja aus wie bei uns.«

Und tatsächlich sieht es damals am Schlesischen Tor fast genauso aus wie an der Frankfurter Allee, weshalb bald viele Leute ihre Sachen packen und anfangen, diese Gegend zu besiedeln. So, wie es bisher all die Leute getan haben, die die Welt von Herrn Lehmann bevölkern, bloß ein paar Kilometer weiter östlich. Für das Milieu von Herrn Lehmann bedeutet das jedoch den Untergang.

Lassen wir einmal außen vor, dass Sven Regener Songschreiber der Band Element Of Crime ist, um dem ganzen Komplex Popmusik und Literatur aus dem Weg zu gehen. »Herr Lehmann« ist vielleicht Popliteratur, vor allem aber ein historischer Roman. Ein Roman aus Kreuzberg 36 im Sommer 89, einer untergegangenen Welt, in der die Kneipen »Zufall«, »Einfall« oder »Abfall« heißen.

Die Geschichte ist schnell erzählt. Herr Lehmann nähert sich seinem 30. Geburtstag, das ist etwas, was ihm gar nicht behagt. Denn zum einen hat er sich ganz gut eingerichtet, zum anderen fehlt ihm irgendetwas. Dann lernt er die Frau seines Lebens kennen, aber ihre Beziehung scheitert, als der Sommer zu Ende geht. Dann fällt die Mauer.

Aber um die Geschichte geht es eigentlich nicht, es geht um die Rekonstruktion eines versunkenen Milieus und seiner Orte, Menschen und Codes. Wie war das denn eigentlich, damals - nicht auf der Insel Westberlin, sondern im Biotop Kreuzberg der späten Achtziger?

Es ist eine Welt, die von Menschen bewohnt wird, die irgendwann einmal mit hehren Motiven nach Westberlin kamen, um zu studieren oder dem Zivildienst zu entgehen, und die nun vor allem in Kneipen arbeiten und verkehren. Der Kontakt zu den Eingeborenen beschränkt sich auf BVG-Kontrolleure, Busfahrer oder Polizisten - obrigkeitshörige Büttel allesamt, mit denen Herr Lehmann sich bei jeder Gelegenheit anlegt. Den Kudamm meidet er, denn den Anblick der dort flanierenden »Naziwitwen« erträgt er nicht.

Jedes Kapitel wirft seinen Protagonisten in eine neue Situation. Er kommt betrunken nach Hause, wird von einem Anruf der Mutter geweckt und sieht sich mit dem Umstand konfrontiert, dass die Eltern sich für einen Besuch ankündigen. Herr Lehmann geht in ein Café und ärgert sich seitenlang, dass man eigentlich in Cafés Frühstücksverbote erteilen müsste. Er geht ins Prinzenbad, steht im »Abfall« hinter der Bar. Er läuft durch die Straßen von Kreuzberg 36.

Liebevoll stellt Sven Regener die Szenen aus dem Leben der Kreuzberger Boheme nach. Die Kneipendialoge hören sich an, als seien sie nach Transkriptionen des Originalgeschwätzes entstanden, und die diversen Spezialcodes sind detailgenau nachgebaut; etwa mit Künstlern befreundet zu sein, aber mit deren Stahlschweißereien nicht wirklich etwas anfangen zu können. Oder die Konflikte darüber, ob nun Krachmusik mit Gitarren in der Kneipe laufen soll oder diese neue Bummbummbumm-Musik (die Technokassette wird schließlich im Kühlschrank versteckt). Auch die beiden blinden Flecken dieses Codes werden als solche behandelt: die türkischen Bewohner von Kreuzberg kommen in Lehmanns Welt so gut wie gar nicht vor, genauso wenig wie der Osten.

Es ist eine kleine Welt von Leuten, die aus Westdeutschland weggegangen sind und die sich nun in Kreuzberg eine Art Alternativ-Westdeutschland-Kleinstadt zusammen gebaut haben: drei Kneipen, vier Straßen, fünf Freunde.

Und so wenig Herr Lehmann sich wahrscheinlich ein paar Jahre später an die Oberbaumbrücke stellen wird, um gegen deren Öffnung zu demonstrieren - dafür kann er die »autonomen Arschlöcher« und die »Antifadeppen« viel zu wenig leiden - so sehr denkt man sich am Ende: Ein Glück, dass all das der Vergangenheit angehört. Ein Glück, dass die Mauer gefallen ist und dieses Biotop weggeschwemmt hat. Diese Welt stand still, sie war an ihrem Ende angekommen. Wäre die Mauer nicht gefallen, wäre etwas anderes passiert.

Sven Regener: Herr Lehmann. Eichborn Berlin, Berlin 2001. 300 S., DM 35,99