Michael Haneke verfilmt Elfriede Jelineks »Klavierspielerin«

Theorie und Praxis der Liebe

Michael Haneke hat Elfriede Jelineks Roman »Die Klavierspielerin« kongenial verfilmt.

Zum ersten Mal seit 1945 gibt es wieder einen österreichischen Exilfilm. Der zur Zeit bedeutendste österreichische Filmregisseur hat einen Roman der bedeutendsten österreichischen Schriftstellerin für die Leinwand bearbeitet und, obwohl die Handlung in Wien spielt, die Hauptrollen mit französischen Darstellern besetzt; außerdem ist der Film überwiegend mit französischem Geld finanziert worden.

Michael Haneke und Elfriede Jelinek gehören zu den leidenschaftlichsten Kritikern von Jörg Haider und der österreichischen Kulturpolitik. Da erscheint der Umstand, dass die »Klavierspielerin« den guten Ruf des französischen Kinos festigt, als politische Geste, als eine Art Österreichboykott. Der in Cannes mehrfach ausgezeichnete Film beweist zweifellos, dass Haneke und Jelinek nicht auf Österreich angewiesen sind und ihre Arbeit international Gültigkeit besitzt.

Doch die ungewöhnliche Produktionsgeschichte der »Klavierspielerin« hat wohl eher mit einem Talent von Haneke zu tun, über das er nur ungern spricht. Der gnadenlose, zuweilen überdeutliche Gesellschaftskritiker ist ganz nebenbei ein Regisseur, der Darstellerinnen in Szene zu setzen versteht. In »Bennys Video« (1992) und »Funny Games« (1987) haben Angela Winkler und Susanne Lothar verhindert, dass Hanekes Abrechnung mit den visuellen Medien sich auf Thesenpapierniveau bewegte. Dann verlangte Juliette Binoche nach ihm, obwohl sie längst mit einem Bein in Hollywood stand. Sie wollte unbedingt mit ihm arbeiten, unabhängig davon, wie ihre Rolle aussehen würde. Das Ergebnis war »Code: unbekannt« (2000), ein erfreulich undidaktischer Film, der Themen wie Migration, Rassismus und das alltägliche Wegschauen behandelte, ohne vordergründig zu belehren.

Haneke ist der ideale Regisseur für uneitle Schauspielerinnen, die den Mut haben, sich seelisch zu entblößen, was natürlich auch wieder eine Art von Eitelkeit sein könnte. Nach Binoche verspürte die Godard- und Chabrol-erfahrene Isabelle Huppert das Bedürfnis, mit dem Österreicher zu arbeiten. Hat sich Haneke, dessen Filme rund zwanzig Jahre lang unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelaufen sind, vom späten Ruhm verführen lassen und sich an das Starkino verkauft? Keineswegs. Die »Klavierspielerin« ist so unbequem, wie es ein Film nur sein kann. Haneke hält sich so eng an Jelineks Roman, bis hin zu Details wie Frisuren oder Kleidungsstücken, dass eine Interpretation des Films über weite Strecken identisch mit einer Interpretation der literarischen Vorlage ist. Beide Male wird eindringlich das Dilemma kopfgesteuerter Sexualität beschrieben, das Gefälle zwischen Theorie und Praxis in der Liebe. Die moderne Sexindustrie macht es dem Menschen scheinbar leichter, seine Bedürfnisse zu befriedigen, doch sie löst keine Probleme.

Wenn die Klavierlehrerin Erika Kohut ein Pornokino besucht, kann sie sich das Programm aussuchen, doch im Privatleben läuft nichts so, wie sie es sich wünscht. Erika lebt mit Ende 30 noch immer bei ihrer Mutter (Annie Girardot). Sie ist am Wiener Konservatorium eine Respektperson, vor der andere sich fürchten, doch wenn sie später als sonst nach Hause kommt, muss sie sich vor der kleinbürgerlichen Mutter rechtfertigen. Sie wartet bereits im Hausflur, entreißt der Tochter die Handtasche und kontrolliert deren Inhalt: ein neues Kleid, ein Sparbuch, von dem ein hoher Betrag abgehoben wurde. Schnell wird die erste Ohrfeige ausgeteilt. Es gibt auch Zweikämpfe am Boden, doch Erika und ihre Mutter achten penibel auf Zimmerlautstärke, wenn sie sich beschimpfen und aufeinander einprügeln.

Es ist eine deprimierende Beziehung. Die Dielen knarren, somit lässt sich jeder Schritt in der Wohnung überwachen. Mutter und Tochter schlafen sogar im selben Bett. Wenn sie nebeneinander liegen, leuchtet Kameramann Christian Berger die Szenerie aus wie eine Leichenhalle. Das Gespräch vor dem Einschlafen ist quälend lang, und muss auch quälend lang sein - nur so lässt sich die Absurdität dieser Lebensgemeinschaft nachvollziehen.

Weil die von ihrer Mutter Beherrschte selbst herrschen will, ist Erika Klavierlehrerin geworden. Gnadenlos macht sie ihre Schüler nieder, dadurch gelingt es Haneke auch, ein wenig von Jelineks Sarkasmus in den Film zu retten. Für die deutsche Synchronisation konnte Corinna Harfouch gewonnen werden, ohne deren kaltschnäuzige Diktion die »Klavierspielerin« nicht halb so eindrucksvoll wäre. Das Lustprinzip ist Erika zuwider. »Ich habe keine Gefühle«, sagt sie einmal, »und selbst wenn ich welche hätte, könnten sie nie über meine Intelligenz siegen.« Pornos, auf den ersten Blick ein unverständlicher Kontrast zu ihrer kultivierten Tätigkeit, schätzt sie wegen ihres Mangels an Leidenschaft. »In den Pornofilmen wird allgemein mehr gearbeitet als im Film über die Welt der Arbeit« (Jelinek). Erikas Welt gerät aus den Fugen, als sie den Klavierschüler Walter Klemmer (Benoît Magimel) kennenlernt. Walter vereint Gegensätze in sich, die Erika noch nie in einem Menschen gefunden hat. Am Klavier ein herausragender Techniker, ist er dennoch schwärmerisch veranlagt und bereit, sich gehen zu lassen. Das, was Erika respektiert und das, was sie verabscheut, ist in ihm vereint. »Ihnen geht es gar nicht um die Musik, sondern nur um den Erfolg, den die Musik mit sich bringt«, wirft sie ihm vor. Doch wenn sie abfällig vom Erfolg redet, meint sie den Genuss, die Freude an sich selbst. Ihrer Ansicht nach darf Musik keinen Spaß machen.

Nicht einmal ihre voyeuristischen Aktionen sind von Lust bestimmt. Wenn sie in der Kabine eines Pornokinos an einem spermagetränkten Taschentuch riecht oder im Autokino einem Paar beim Sex zuschaut, tut sie das mit dem Gestus der Forscherin. Ihre Version von Selbstbefriedigung besteht darin, sich auf den Rand der Badewanne zu setzen und mit einem Rasiermesser die Schamlippen aufzuschneiden. Im Film ist das erschütternder als im Roman, wo Jelinek lakonisch bemerkt: »Ihr Hobby ist das Schneiden am eigenen Körper.«

Später wird Erika Walter bitten, ihr wehzutun. Ganz nach Vorschrift. Walter lehnt ab, weil er Erika liebt, aber auch, weil es ihm nichts bringt, sie zu quälen. Erst der unerträgliche Triebaufschub führt dazu, dass er ausrastet und gegen Erika Gewalt anwendet. Die hat, wie sie zu ihrem Entsetzen feststellen muss, überhaupt nichts mehr mit ihren masochistischen Phantasien zu tun.

Wer ist nun schuld an Erikas Absturz? Nicht die Medien oder die kalte Gesellschaft, wie Haneke in seinen bisherigen Filmen argumentierte. Sondern die Mutter. »Hübsch ist Erika nicht«, schreibt Jelinek. »Wollte sie hübsch sein, die Mutter hätte es ihr sofort verboten.« Erika hat keine Freunde: »Die Mutter bestimmt auch die Nachfrage nach ihrer Tochter, was damit endet, dass immer weniger Leute die Tochter sehen oder sprechen wollen.«

Eine von Erikas Klavierschülerinnen, Anna Schober (Anna Sigalevitch), teilt dieses Schicksal. Ihre Mutter (Susanne Lothar) hat ebenfalls dem Kind frühzeitig eingeredet, es sei nicht attraktiv und müsse deswegen fleißig Klavier üben. Anna zeigt ihre Verletzbarkeit ganz offen. Dafür verachtet Erika sie so sehr, dass sie ihr Glasscherben in die Manteltasche schüttet, an denen sich Anna die rechte Hand zerschneidet. Haneke belässt es bei dieser hinterhältigen Tat; in Jelineks Roman verhält sich Erika noch gemeiner gegenüber anderen Frauen; sie tritt in der Straßenbahn einer Frau gegen das Schienbein oder zeigt einer Touristin die falsche Richtung.

Wie Erika wird auch Walter in Hanekes Adaption moralisch aufgewertet. Er ist im Roman zunächst völlig unscheinbar, und als er an Profil gewinnt, wirkt er kalt und berechnend. Eiskalt nutzt er die Torschlusspanik der alternden Lehrerin aus. Im Film hat Walter einen glanzvollen ersten Auftritt, ganz jugendlicher Held, und seine Gefühle für Erika sind aufrichtig; erst aus enttäuschter Liebe rastet er aus. Auf der inhaltlichen Ebene werktreu, hat Haneke den Ton der Vorlage leicht verändert. Er ist gefühlvoller als Jelinek und verzichtet auf ironische Distanz.

Ein weiterer Unterschied zum Roman ist die Bedeutung der Musik. In einem audiovisuellen Medium kommt sie natürlich besser zum Zuge. Lange verweilt die Kamera auf den Tasten, akribisch wird das qualvolle Üben dokumentiert. Vielleicht unbeabsichtigt ist »Die Klavierspielerin« eine radikalere Version von Ingmar Bergmans Herbstsonate (1978), wo die gefeierte Pianistin Ingrid Bergman an ihrer dilettierenden Tochter Liv Ullmann herummäkelt. Und die Selbstverstümmelung durch Scherben hatte Bergman bereits in »Schreie und Flüstern« (1972) thematisiert, mit demselben Gespür für unterkühlte Schockwirkungen.

So wäre die »Klavierspielerin« nach dem Dogma des Autorenfilms eine Niederlage für Haneke, da er hinter den Persönlichkeiten von Huppert und Jelinek verschwindet und wie ein (bestmöglicher) Epigone von Ingmar Bergman dasteht. An dem exzellenten Resultat ändert das nichts. Haneke wäre sicherlich auch in der Lage, Jelineks Roman »Lust« (1989) zu verfilmen.

»Die Klavierspielerin«, F 2001. R: Michael Haneke.

Start: 11. Oktober