Reaktionen auf US-Angriffe

Solidarisch ohne Wahl

Als Nato-Mitglied und islamisches Land befindet sich die Türkei in einer prekären Lage.

Verkauft unsere Soldaten nicht«, forderten die türkischen Zeitungen nach der Entscheidung des Parlaments in Ankara am Ende der vergangenen Woche, die es nun der Regierung unter Bülent Ecevit erlaubt, die Armee künftig auch im Ausland einzusetzen. Die Debatte um eine mögliche Beteiligung an der »Anti-Terror-Allianz« hat die türkische Öffentlichkeit polarisiert und auch die außenpolitischen Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Die Vereinigten Staaten begrüßten umgehend den Beschluss, während sich der türkische Außenminister Ismail Cem wenige Tage später auf dem Treffen der islamischen Staaten und der Arabischen Liga in Doha, der Hauptstadt Katars, isoliert sah. Dort sitzt die Türkei als islamisches Land und treuer Nato-Partner zwischen allen Stühlen.

Vor den Vertretern der 57 Staaten erklärte Cem, dass der Terrorismus, auch wenn er sich auf den Islam beruft, unerbittlich bekämpft werden müsse. Viele Zuhörer empfanden die Rede als schulmeisterliche Belehrung auf einer Konferenz, auf der es doch darum gehen sollte, eine gemeinsame Position angesichts der US-Militärschläge gegen Afghanistan zu formulieren.

Insgeheim träumt Ankara von einer Vermittlerrolle zwischen den arabischen Ländern und den USA sowie der EU, doch schon allein die geheimdienstliche und militärische Kooperation mit Israel macht die Türken für eine solche Rolle ungeeignet. Ismail Cem betonte zwar in Doha, dass die militärischen Aktionen unter Führung der USA sich auf Afghanistan beschränken sollten. Doch alle Konferenzteilnehmer in Doha wussten, dass ein möglicher Angriff auf den Irak von den türkischen Militärbasen, insbesondere von dem bereits im Golfkrieg benutzten Stützpunkt Incirlik bei Adana, ausginge.

Ankara befindet sich in einer Zwickmühle. Die türkische Regierung hatte den USA nach den Anschlägen vom 11. September spontan ihre volle Unterstützung zugesagt und zöge dieses Angebot auch im Falle eines Angriffs auf den Irak nicht zurück. Doch eine lang andauernde Offensive in Afghanistan oder eine Ausweitung des Konflikts auf irakisches Gebiet liegt sicherlich nicht im Interesse der Türkei.

Das Land erlebt derzeit die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahren mit einer Hyperinflation, Massenentlassungen sowie zahlreichen Firmen- und Bankenpleiten. Eine noch größere Instabilität würde den Handel mit den Nachbarn empfindlich stören, aber auch die Bereitschaft ausländischer Investoren, in der Region überhaupt noch etwas zu riskieren. Um ganz zu schweigen von den Kosten, die entstünden, falls die Streitkräfte sich aktiv an einem militärischen Einsatz beteiligten. Die türkische Regierung hat zwar nicht vergessen, dass sie nach dem Golfkrieg wegen ihrer loyalen Haltung gelobt wurde. Zugleich ließen die Verbündeten sie, trotz gegenteiliger Versprechen, auf den durch Handelseinbußen verursachten finanziellen Verlusten sitzen.

Hinzu kommt, dass der US-Militäreinsatz in der Öffentlichkeit nicht populär ist. Die türkische Bevölkerung verurteilt die Terroranschläge in den USA, doch gleichzeitig versteht man die Logik einer derartigen Offensive nicht. Schließlich seien die genauen Hintergründe des Anschlages noch nicht geklärt, und Afghanistan sei ein von Bürgerkriegen und den Taliban verwüstetes Land, das nur über geringe militärische Kapazitäten verfüge.

»Ein Volk wandert aus. Zwei Millionen Afghanen flüchten, 7,5 Millionen stehen an der Hungergrenze«, titelte die linksliberale Zeitung Radikal am vergangenen Donnerstag, einen »Mord an Zivilisten« meldete die Hauszeitung der islamistischen »Wohlfahrtspartei« Yeni Þafak. Die Kommentare verdammen einerseits jeden Terror und kritisieren gleichzeitig, dass eine gesamte Region als potenzielle Zufluchtsstätte von Terroristen gilt.

Besonders die Islamisten sehen in den US-Militärschlägen nur eine Vergeltungsmaßnahme, die sich gegen die afghanische Zivilbevölkerung richte. »Die USA sind jetzt zugleich Opfer, Staatsanwalt, Richter und Henker. Der Kampf gegen den Terrorismus muss unter der Führung der Vereinten Nationen oder einem unabhängigen internationalen Gremium stattfinden, dem die USA erst einmal ihre Beweise unterbreiten können«, verlangte der Vorsitzende der islamistischen Wohlfahrtspartei, Recai Kutan, während der parlamentarischen Debatte über eine mögliche Entsendung türkischer Soldaten.

In der Türkei ist zudem der Golfkrieg noch gut in Erinnerung, als im Irak nicht ein Diktator entmachtet wurde, sondern vor allem Zivilisten starben. Jetzt fürchten viele, dass sich der Konflikt zu einem Krieg im Nahen Osten ausweiten könnte. Gerüchte in der amerikanischen und internationalen Presse, dass sich Anhänger Ussama bin Ladens auch im Nordirak aufhalten, verstärken diese Sorge.

Seit Beginn der neunziger Jahre, als die USA versuchten, die nordirakische kurdische Opposition gegen Saddam Hussein einzusetzen und damit kläglich scheiterten, betrachtet Ankara die amerikanischen Aktivitäten in der Region mit Sorge. Nachdem Bagdad überraschend Truppen in den Nordirak einmarschieren ließ, mussten damals Tausende einheimische CIA-Agenten über die Türkei evakuiert werden. Seitdem fürchtet Ankara, dass die USA einen kurdischen Satellitenstaat im Nordirak installieren möchten, der dort eine ähnliche Rolle übernehmen könnte wie die Nordallianz in Afghanistan.

Eine solche Entwicklung würde essenzielle türkische Interessen gefährden. Denn bislang ist die Türkei die Hegemonialmacht und sichert die Außengrenzen der Nato gegen die Nachbarn Syrien, Irak und Iran. Dafür wird im westlichen Bündnis toleriert, dass der gesamte türkische Südosten militarisiert ist, die kurdische Minderheit dort systematisch vertrieben wurde und der Rest unter Notstandsgesetzen gehalten wird.

Gleichzeitig soll in der Region wieder ungestört Handel betrieben werden, wie er jetzt schon, allerdings auf illegale Weise, stattfindet. Unter Umgehung des UN-Embargos wird Öl aus dem Irak in großen Mengen über die nordirakische Grenze in die Türkei geliefert, ebenso profitiert der türkische Schwarzmarkt vom Waffen- und Drogenschmuggel. Trotz aller diplomatischer Kritik betrachtet Ankara diese Geschäfte als gerechtfertigte Entschädigung für die wirtschaftlichen Einbußen infolge des Golfkrieges.

Doch um die marode Wirtschaft und den überschuldeten Staatshaushalt zu sanieren, reichen auch die Einnahmen auf dem Schwarzmarkt bei weitem nicht aus. Ankara ist daher mehr denn je auf Kredite des IWF und privater Banken angewiesen und wird es sich mit Washington nicht verscherzen können.

Gegenüber der Bevölkerung rechtfertigte die türkische Regierung ihre Zugeständnisse an die USA, die zum Teil ihren eigenen Interessen widersprechen, mit einem Hinweis auf die erfolgreiche Bekämpfung der PKK. Die Nachrichtensender wurden in den vergangenen Wochen nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die USA jetzt auf die Hilfe des im Anti-Terror-Kampf erprobten Nato-Partners Türkei angewiesen seien. Zudem habe in der Vergangenheit nur die Türkei die Gefahr des internationalen Terrorismus erkannt und sei entsprechend konsequent gegen ihn vorgegangen.

Ein zynisches Resümee angesichts eines über 15 Jahre lang geführten Krieges gegen die PKK, der etwa 60 000 Todesopfer gefordert und den Südosten des Landes in einem katastrophalen Zustand hinterlassen hat. In Ankara weiß man auch nur zu gut, wie gefährlich die Teilnahme an einem solchen Feldzug wäre. Die Funktion eines Brückenkopfes für US-Militäreinsätze garantiert zwar die Anerkennung der Nato, gefährdet aber die Rolle der Türkei als Regionalmacht.