Attac-Kongress in Berlin

Erst grüblen, dann dübeln

Raus aus der Redaktion, rein in die sozialen Bewegungen: Am Wochenende fand der Gründungskongress von Attac Deutschland statt.

So nahe lag mein Wahllokal noch nie. Sonntagmorgen, fünf nach neun: Das Kreuz bei Gysi ist schnell gemacht, und dann geht es auf dem Fahrrad auch schon ab durch die Berliner Mitte. Mariannenplatz, Reichstag, Siegessäule - immer Richtung Westen, bis zum Hauptgebäude der Technischen Universität (TU). Nach der stillen Stimmabgabe für den Ostsozialdemokraten spricht hier die wahre Stimme der westdeutschen Sozialdemokratie. Oskar Lafontaine ist gekommen, und mit ihm 2 500 Attac-Mitglieder und -Sympathisanten.

Eigentlich hatte ich ja selbst gedacht, dass diese Zeiten seit zehn Jahren vorbei seien. »PDS wählen, spinnst du?« pöbelte ein Freund, der am Wochenende zu Besuch war. Aber der hat gut reden, schließlich lebt er in Hamburg, und dort stand vor vier Wochen bekanntlich kein Links-, sondern ein Rechtspopulist zur Wahl. Und wegen Lafontaine aus dem Bett gequält hat er sich am Sonntag auch.

Das frühe Aufstehen hat sich allerdings nicht gelohnt. Klar, Lafontaines Spitzen gegen das militärische Erwachsenwerden von Rot-Grün - »ein Ausdruck schlimmster Unreife« - trafen irgendwie den Punkt. Aber wer so frenetisch Beifall klatschte wie die meisten im Publikum, der muss schon über ein irres Urvertrauen in die Suggestivkräfte sozialdemokratischer Politik verfügen.

Dass es den seit dem Frühjahr auch in Deutschland organisierten Verfechtern der so genannten Tobin-Steuer und regulierter Finanzmärkte daran nicht mangelt, konnte man nach dem G 8-Gipfel in Genua überall nachlesen. Doch selbst wer nur zur Unterhaltung in die TU gekommen war, hätte das besser einen Tag vor Lafontaine tun sollen.

Denn auf ihrem Gründungskongress zeigten die deutschen Attac-AktivistInnen, dass sie das Repertoire medialen Agenda-Settings ebenso gut beherrschen wie der Finanzminister a.D. »Sprechen vor der Fernsehkamera«, »Pressearbeit vor Ort« und »Wie gründe ich eine Attac Ortsgruppe?« lauteten nur drei der Arbeitsgruppen, die so gar nicht an den visionär-naiv anmutenden Titel des Kongresses (»Eine andere Welt ist möglich!«) erinnerten. Und auch in dem Dutzend Veranstaltungen, in denen Attac-Sprecher auf dem Podium saßen, zeigten die außerparlamentarischen Repräsentanten der Sozialdemokratie, dass sie ihr Geschäft ganz schön schnell ganz gut gelernt haben.

Wie Peter Wahl etwa, den das nach den Ereignissen von Genua rasant gewachsene öffentliche Interesse an die Spitze der inzwischen 2 000 Mitglieder starken Organisation gespült hat. »Wenn sich die Revolutionäre von 1789 zuerst über ihr Staatsverständnis Gedanken gemacht hätten, dann würden wir noch heute auf den Sturm auf die Bastille warten«, attackierte er am Samstag Markus Wissen vom Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (Buko), den bundesweit wohl dezediertesten linken Attac-Kritiker. Doch Wissen schlug Wahl mit dessen eigenen Waffen, als er nicht minder fernsehkompatibel konterte: »Hätte der dritte Stand das Politikverständnis von Attac gehabt, dann hätte dieser nie die Nationalversammlung gegründet, sondern stattdessen Ludwig XVI. eine Petition überreicht.«

So verkürzt der Schlagabtausch zwischen Wissen und Wahl auch war, verdeutlicht er doch das Grundproblem des Politikansatzes von Attac: Symbolische Aktionen und konkrete realpolitische Forderungen mögen zwar für temporäre Aufmerksamkeit in den Medien sorgen, die angeblich angestrebte Abgrenzung von parlamentarisch organisierten Sozialdemokraten und Grünen wird so kaum gelingen. Wie nahe der Anschluss an den traditionellen, etatistischen Flügel der SPD liegt, zeigte sich nicht nur im Einstieg Lafontaines bei Attac. Auch Peter Wahl gelang es nicht, die Buko-Kritik an der Staatsfixierung seiner Organisation zurückweisen, »weil Attac weder ein implizites noch ein explizites Staatsverständnis hat«. Außerdem sei auch die Mitgliedschaft »nicht abhängig davon, dass man vorher einen Kapitalkurs gemacht hat«. Schöner könnte man die Ideologie der vermeintlichen Ideologielosigkeit kaum auf den Punkt bringen.

Das Verwirrende an Attac aber ist, dass neben AktivistInnen, denen ein wenig Lektüre des »Kapital« nicht schaden würde, Aktivisten sitzen, die Marx am besten nie in die Hände genommen hätten. Dass dazu auch Jörg Huffschmid von der Memorandum-Gruppe für Alternative Wirtschaftspolitik zählt, hätte ich vor zehn Jahren zwar auch nicht gedacht. Doch so wie schon das Engagement gegen den Golf-Krieg den linken Hang zu einfachen Erklärungen offen legte, so forcieren die Militärschläge gegen Afghanistan offenbar erneut die Bereitschaft, Analyse durch abgedroschene Politphrasen zu ersetzen.

Rund 45 Mal in 45 Minuten sprach Huffschmid vom »grenzenlosen Expansionsdrang des Kapitalismus«, von dessen »Tendenz zur Expansion«, von der »prinzipiell aggressiven Disposition« desselben bzw. von den »explosiven aggressiven Tendenzen« des kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Der Versuch, die Geschichte des Kapitalismus in Bezug zu den Anschlägen vom 11. September und deren Folgen zu setzen, scheiterte auf der ganzen Linie. »Wer sich Afghanistan genau anschaut, der sieht sehr umfangreiche Ölvorräte«, konstatierte Huffschmid, um dann das Kaspische mit dem Schwarzen Meer zu verwechseln. Und selbst das Eingeständnis, es handele sich bei seinen Erkenntnissen um »Plattitüden, die man sonst immer nur aus der ganz linksradikalen Ecke hört«, schaffte er, gegen sich selbst zu wenden. Daran zeige sich doch, so Huffschmid, dass die Linke nicht immer nur Unrecht habe.

Auch wenn die Thesen des Bremer Politikprofessors nicht exemplarisch für die gesamte Bewegung sein dürften - von Linksruck-Sektierern über Verdi-Gewerkschafter bis zu enttäuschten Grünen ist bei Attac so ziemlich alles versammelt, was den Mauerfall politisch überlebt hat -, lassen die Reaktionen des Publikums auf das mit Horst-Eberhard Richter und Huffschmid prominent besetzte Podium über »Globalisierung der Marktherrschaft als Quelle von Gewalt und Krieg - die Militärschläge der USA und die sozioökonomischen Ursachen von Terrorismus« einige Schlüsse zu.

So erntete Richter keinen Widerspruch, als er den Ökonomismus Huffschmids um eine weitere fragwürdige Komponente ergänzte. »Die emotionale Kraft der Menschen«, so der frühere Direktor des Sigmund-Freud-Institutes, dürfe in einer Analyse des Krieges gegen Afghanistan nicht fehlen. Und als der taz-Autor Eric Chauvistré verhalten erwähnte, bei bin Laden und Co. handele es sich nicht um »genuine Verbündete von Attac, sondern eher um faschistoide Bewegungen«, erntete er einen Sturm der Entrüstung. Chauvistrés Frage, wozu man diesen Krieg brauche, »wenn man mehr Autos absetzen will«, ging in Buhrufen unter.

Insofern ist es vielleicht ganz gut, dass sich die informelle Attac-Führung um Wahl, Sven Giegold und Felix Kolb gegen ein Grundsatzprogramm für die Organisation ausspricht. Denn intellektuell erträglicher als das reaktionäre Spektrum aus trotzkistischen Entristen, Stalinisten und SAV-AktivistInnen ist eine reformistische Ein- oder Zwei-Punkt-Bewegung allemal. »Erst grübeln, dann dübeln«, fasste eine Attac-Frau das pragmatische Prinzip der GlobalisierungskritikerInnen treffend zusammen

Und besser als eine Ampelkoalition in Berlin ist Attac auch. Am meisten gefreut haben dürften sich die Kongress-Teilnehmer aber über den großen Wahlerfolg ihrer heimlichen Verbündeten im Abgeordnetenhaus der Hauptstadt. So stellt die SPD künftig 41 parlamentarische Ansprechpartner für Attac, die PDS 31. Sonntag, der 21. Oktober: Ein großer Tag für Attac, ein großer Tag für die Berliner Sozialdemokratie. Für was so eine Gysi-Stimme nicht alles gut ist.