Staatliche und private Überwachung

Große und kleine Brüder

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In einer Zeit, in der die Jahreszahl 1984 noch nach ferner Zukunft klang, schrieb George Orwell seinen Klassiker über den Großen Bruder. Seitdem galt dieser Science Fiction als Schreckensvision einer total überwachten und kontrollierten Welt. Als 1987 die Bundesregierung ihr Volk zählen wollte, war vom Überwachungsstaat die Rede. Recht erfolgreich wurde ein Boykott organisiert, die Empörung saß tief.

Dem Schreckensszenario vom Großen Bruder lag ein Gesellschaftsverständnis zugrunde, das den Staat als monolithisches Gebilde mit einem eigenen, einheitlichen Interesse verstand. Es gibt zwar tatsächlich ein staatliches Interesse an Überwachung und Kontrolle. Gerade die aktuellen Gesetzesverschärfungen - nicht nur in Deutschland - beweisen das. Doch der Staat ist nicht der Motor der Überwachungsgesellschaft. Es gibt ihn eben nicht, den Großen Bruder, sondern eine Gesellschaft voller größerer und kleinerer Brüder, die sich teilweise auch noch gegenseitig beobachten.

Rasterfahndung zum Beispiel erleben wir täglich im World Wide Web. Wer oft im Internet surft, bekommt zuweilen E-Mails von völlig unbekannten Firmen, die einem anhand der Datenspuren gefolgt sind und so einen potenziellen Kunden ausgemacht haben. Wer durch die Straßen geht, an den Geldautomaten, ins Postamt oder auf den Bahnhof, wird von Videokameras erfasst. Wer sein Handy verloren hat, kann es vom Provider per Satellit orten lassen. Und wer bei einem Chemieunternehmen arbeiten will, wird unter Umständen zum Drogencheck eine Haarprobe zur Genanalyse abgeben müssen.

Hinter diesen Überwachungsmaßnahmen steht keineswegs »der Staat«. Es sind viele unterschiedliche Akteure, die ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen oder Sicherheitsbedürfnisse haben. Die biometrischen Systeme, von denen nun allenthalben die Rede ist, also automatische Gesichts-, Stimm-, Iris-, Handform- oder Fingerprinterkennung, wurden nicht im Auftrag Otto Schilys entwickelt, auch wenn er sie heute gerne für staatlich-repressive Zwecke nutzen will. Hinter diesen Systemen stehen vielmehr Computerfirmen und Banken, die mit dieser neuen Technologie die alten Passwort- und Chipkartensysteme zur Personenidentifikation ablösen wollen. Videokameras hängen bisher nur in wenigen Städten an öffentlichen Plätzen und werden von der Polizei kontrolliert. Die meisten Kameras beobachten - von privaten Sicherheitsdiensten verwaltet - Büro- und Geschäftshäuser. Kaufhäuser können die Bilder nicht nur zur Sicherheitskontrolle verwerten, sondern auch das Schaufensterverhalten der Laufkundschaft überprüfen.

Wo es von Großen Brüdern nur so wimmelt und kein einzelner Gegner ausgemacht werden kann, fällt der Widerstand schwer. Eine Täter-Opfer-Zuschreibung ist kaum mehr möglich. Zudem bewirkt diese diffuse, allgegenwärtige Überwachung eine Gewöhnung an neue Technologien.

So ist zu erklären, dass Big Brother keine Horrorvision mehr ist, sondern eine beliebte Fernsehshow. Bestand früher ein abstraktes Unsicherheitsgefühl gegenüber »dem Russen«, dem Atomkrieg oder dem Waldsterben, so sind nach Ende der Blockkonfrontation auch die Feind- und Angstbilder andere. Angst hatte man plötzlich wahlweise vor Ausländern oder Nazis, Handtaschenräubern oder »Autobanden«. Gegen solche innerhalb der Gesellschaft angesiedelten Angstbilder verspricht man sich Schutz durch diverse nichtstaatliche Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen.

Doch jetzt gibt es wieder ein von Außen kommendes Angstbild, den islamistischen Terror, und einen Staat, der die Mittel der Überwachung in seine Hand nimmt. Es könnte somit auch die Zeit sein, in der es wieder möglich wird, die Stimme zum Protest zu erheben. Wenn es nicht schon zu spät ist.