Betrachtung über die Ampel

Stehen, Leuchten, Gehen

Und ist das Chaos noch so groß, die Ampel bleibt bewegungslos.

Immobilität der Ampel

Schon seit jeher ist auf die Ampel Verlass. Keinen Fußbreit rückt sie von der Stelle. Nie wird sie aus sich selbst heraus etwas anderes tun, als regungslos zu verharren und zu tun, was sie stets tut: nichts. Geschehe, was immer geschehen mag, die Ampel schert es nicht. Und ist das Chaos noch so groß, die Ampel bleibt bewegungslos.

Ampelfarbenlehre

Kommen wir nun zu den Farben der Ampel. Da ist zunächst mal Rot. Ist die Ampel rot, herrscht Trübsinn und Langeweile, denn das Gebot des Augenblicks heißt: stillgestanden. Stehen bleiben und starren. Stillstand allerorten. Untätig steht man nebeneinander herum, guckt ins Nichts oder dreht Däumchen.

Die nächste Farbe ist Gelb. Das Gelb ist besonders tückisch. Man weiß nicht, muss man beschleunigen oder bremsen. Aufgepasst: Von allen Ampelfarben erlischt Gelb am schnellsten. Sind einem vom müßigen Warten bereits die Füße eingeschlafen und der Motor abgestorben, leuchtet es blitzartig - ein Gelb, das signalisieren will: »Erwachet!«, »Seid bereit!«, »Gebt Gummi!«

Nimmt man es ebenso schlagartig wahr wie es auftaucht, zuckt man unwillkürlich zusammen und weiß für Sekundenbruchteile weder ein noch aus. Innere Unruhe und äußerste Verwirrtheit. Was will es, das grelle Gelb? Was flackert und blinkt es so panisch? Vollbremsung! Warten bis wieder Gelb kommt. Hat man sich rasch aufgerafft, ruckartig in innerliche Bereitschaft versetzt und dem Fuß auf dem Pedal den Befehl zum Durchstarten erteilt, ist das Gelb schon wieder ganz verschwunden.

Jedoch: Dem Ampelexperten Ulrich Giersch zufolge versucht nahezu jede Ampel, »die existentielle Verlorenheit der Seele (...) zu binden und einen Messias einzuschalten. Nur er hat die Macht, das Warten zu beenden«. Uferlose Anspannung und Nervosität sind die Folgen. »So sehnen sich die Wartenden nach jenem Ruck, der ihren Körper erfasst, wenn er das grüne Signal empfängt und nun zu einem Medium mutiert, das die simple Botschaft in eine Schrittfolge übersetzt«, erläutert Giersch.

Zwischenzeitlich ist auch tatsächlich das sinnentleerte Hektik auslösende Gelb von einem aggressiven Grün abgelöst worden, welches sofortige, prompte Aktivität verursacht. Wo vorher unsinnig alles in künstlich erzwungener, totaler Bewegungslosigkeit verharrte, prescht nun alles ziellos voran. Wo vorher Uneinigkeit und Ratlosigkeit waren, herrscht nun totaler Konsens: Generalmobilmachung. Losmarschieren. Wer stehen bleibt, wird überrannt.

So wird das Versprechen, das das Grün verheißt, nur scheinbar eingelöst. Die vermeintliche Erlösung vom müßigen Warten mündet in wahnhafte Aufgeputschtheit und ungebändigtes Gerenne.

Dieser »binäre Verhaltenscodex, das Gebot zu gehen oder zu warten, Yin und Yang« (Giersch), wird von dem so genannten Ampelmann vorgegeben.

Ikonografie des Ampelmannes

Ist der in Bewegung befindliche grüne Ampelmann im Grunde konzipiert als »Lichtwesen, das die Dynamik eines wirklichen Aktivisten ausstrahlt« (Giersch), so verhält es sich mit dem roten Ampelmann gerade umgekehrt. Dieser verkörpert nach Ansicht des Ampelforschers Giersch »ganz und gar das Verbot jeglichen Fortschreitens. Ohne selbst davon zu wissen, arbeitet er als historisches Bremsorgan. Immer erinnert er an (...) Dinge (...), für die man auch nicht richtig kämpfen kann, sondern auf die man schlichtweg warten muss. Passivität hat er gleichfalls zu einem Pathos entfaltet (...). Als Vertreter der Idee von einem fertigen Staatsgebilde gebietet er Einhalt vor den anrückenden Massen, die von einer leuchtenden Idee, der Revolution beispielsweise (...), getrieben werden.«

Sprechunfähigkeit der Ampel

Zur dialogischen Kommunikation ist die Ampel nicht fähig. Bisweilen fiept, rauscht, summt oder brummt sie ein kurzes Weilchen bewusstlos vor sich hin, spricht aber keine vollständigen vernünftigen Sätze. Letztlich agiert sie eigentlich gar nicht, sondern existiert praktisch nur.

Monomanische Ampelexistenz

Geben wir es zu: Die Ampel ist unter all den von Menschenhirnen erdachten Einrichtungen zur Regelung des öffentlichen Lebens die mit Abstand langweiligste und zermürbendste. Monomanisch an- und ausgehend und immerfort mit ihrem Farbenwechsel beschäftigt, steht sie da wie eingewurzelt und macht keinen Mucks.

Mit geradezu beängstigender Gleichmütigkeit bei gleichzeitiger harscher Autorität gibt sie wie ein Schweizer Uhrwerk fortwährend die immergleichen Signale. Rot. Gelb. Grün. So und nicht anders lautet das dogmatische Bekenntnis der Ampel, das zu wiederholen sie nie müde wird. Nie wird sie an sich selbst und an ihrem eigenen sturen, phasischen Rhythmus irre. Endlos und gänzlich unbeeindruckt von ihrer Umgebung praktiziert sie unausgesetzt und gleichsam in ständigem Leerlauf begriffen ihre in sich selbst kreisende Achtung-Fertig-Los-Philosophie. Und verbreitet dabei über die Straßenkreuzungen hinweg eine bleierne Atmosphäre allgemeinen Stumpfsinns, die die Erfahrung realer Gegenwart verhindert. Allein die kurzen, leeren Intervalle zwischen dem Aufleuchten der Farben, so Ulrich Giersch, geben die Öffnung auf das frei, »was vor, nach und jenseits von Zeittakten und Handlungssträngen einfach so dahinrauscht«.

Die Schönheit des Schwindens der Ampel

Manchmal aber ist selbst der immerwährend albern blinkende und stumme Kommandos gebende Apparat, der sich aus unbekannten Energiequellen speist, seiner Funktion beraubt.

Doch kein Seiendes auf der Welt gibt es, das im Augenblick seines Hinscheidens so faszinierend und reizvoll wäre wie die Ampel. Entweder sie versagt schlagartig, indem sie tonlos erlischt und bloß noch nichts sagend und dunkel ins Leere ragt. Rasch geht sie ihres Seins verlustig bzw. praktisch einfach kaputt.

Oder dort, wo zuvor noch in militärisch knapp bemessenen Rhythmen ihr fantasieloser Farbenreigen sich ereignete, flimmert's plötzlich sinnlos ohne Ziel und Richtung hin und her. Und hernach blicken wir in drei glanzlose schwarze Augen. Das irrlichternde und blendende Geblinke ist erstorben. Wie Ulrich Giersch meint, erfahren wir nun erst eine »ansonsten kaum recht wahrnehmbare Dimension von Dunkelheit und Stille« bzw. endlich eine »zwischen dem Zeitlauf liegende Pause, wenn nichts geschieht« (Georg Kubler, »Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge«, Frankfurt 1982). Allseitige Finsternis umfängt uns dann sanft und geleitet uns, die Beobachter dieses Schauspiels, zurück zu uns selbst. Das ist dann ein anrührender und wahrhaft schöner Moment.