Robert Menasses »Die Vertreibung aus der Hölle«

Unterschätzte Tortur

Mit »Die Vertreibung aus der Hölle« schreibt Robert Menasse einen Familienroman als historische Parallelschaltung.

Ein regnerischer Tag in Amsterdam. Ein Museumsbesuch aus Langeweile. Dort im Museum sieht Menasse ein Bild, unter dem er zu seinem Erstaunen seinen Namen liest: Robbi Menasse. Erst auf den zweiten Blick erkennt er seinen Irrtum. Denn das Rembrandt-Porträt stellt (vermutlich) den Amsterdamer Rabbi Manasseh ben Israel dar. Doch Menasses Interesse ist geweckt.

So, oder so ähnlich jedenfalls, schilderte der österreichische Autor Robert Menasse auf einer Veranstaltung zum Thema Kunst und Erinnerung den Zugang zum Stoff seines neuen Romans »Die Vertreibung aus der Hölle«. Wer Menasses bisheriges Schaffen kennt, konnte sich denken, dass er es kaum bei schlichter Ahnenforschung belassen würde. Menasse hat sich als Literaturtheoretiker, Philosoph und Schriftsteller an der Synthese von begrifflicher und sinnlicher Erkenntnis versucht. Schaut man sich seine Roman-Trilogie »Sinnliche Gewissheit«, »Selige Zeiten, brüchige Welt« und »Schubumkehr« plus der literarisch schwer einzuordnenden »Phänomenologie der Entgeisterung« an, kann dieser Versuch nur als gelungen bezeichnet werden. In der Trilogie entwickelt er den Gedanken eines »umgekehrten Bildungsromans«. Ihre Helden schreiten die Stufen vom vermeintlich absoluten Wissen zur sinnlichen Gewissheit hinab, bis im letzten Roman der Trilogie die als ausgelagertes Gedächtnis verwendete Videokamera nur noch ein Flimmern wiedergibt. Das Erstaunliche bei der Lektüre ist, dass der gewendete hegelianische Gedanke den Gang der Erzählung nicht permanent klappern lässt, sondern die Protagonisten ohne weiteres als Zeitgenossen und gute Bekannte durchgehen.

Mit seinem neuen Roman wendet sich Menasse biografischen wie geschichtlichen Fragen gleichermaßen zu. Die Erzählung vollzieht sich in zwei Strängen: Da ist Viktor Abravanel, das Erzähler-Ich der Geschichte, der sich im Österreich der neunziger Jahre mit seinen ehemaligen Internatskameraden zur 25jährigen Matura-Feier trifft und dort für Aufruhr sorgt, indem er die NSDAP-Mitgliedsnummern seiner größtenteils anwesenden Lehrerinnen und Lehrer vorliest. Nach dem Eklat bleibt einzig Viktors Jugendliebe Hildegund zurück. Die beiden lassen sich das Menü für dreißig Personen auftragen und Viktor erzählt die Leiden seiner Kindheit sowie der Internats- und Studentenjahre und lässt dabei keine Gelegentheit aus, Hildegund anzubaggern.

Und da ist Mané, alias Manoel, alias Samuel, der Sohn von Gaspar Rodriguez Nunes und Antonia Soeira aus Lissabon, die wegen der heiligen Inquisition fliehen müssen. Jener Mané ist es, aus dem später der namhafte Amsterdamer Rabbi werden soll, der in Verhandlungen mit Cromwell im 17. Jahrhundert das Siedlungsrecht für Juden in England wieder herstellt. Menasse gelingt eine beeindruckende Schilderung dieser Lebenswege, die eigentlich Irrwege von Nachgeborenen der Pogrome, Angehörigen der »zweiten Generation«, sind.

Mané erzählt man nichts von seiner jüdischen Herkunft, weil ein Kind sich zu leicht verplappern könnte. Seinen Vater empfindet er als einen schwächlichen, zurückgezogen lebenden Versager, der ihm keinerlei Vorbild ist. So spielt Mané mit den anderen Kindern Schweinejagd, versucht, die im Geheimen lebenden Juden aufzudecken, und entwickelt dabei ungeahnte Talente. Auch Viktor fühlt sich in seiner Familie fremd, bis er nach der Scheidung der Eltern ins Internat verbannt wird. Das Leben im Internat, Menasse hat es selbst durchlitten, schildert er als eine oft unterschätzte Tortur, mitsamt den noch nicht völlig verarbeiteten Wirrnissen der Pubertät, die gelegentlich ein Schmunzeln zulassen. Ein Schmunzeln, das in der lebensbedrohlichen Jesuitenschule, in die Mané nach der Inhaftierung seiner Eltern gesteckt wird, nicht möglich ist. Die Geschichten von Viktor und Mané durchdringen sich immer weiter. Bald schon stellt sich heraus, dass Viktors Familienname Abravanel jener bekannten jüdischen Familie entstammt, in die der Amsterdamer Rabbi seinerzeit einheiratete und aus der außerdem dereinst der Messias entspringen soll. Zudem ist Viktor Historiker mit dem Spezialgebiet Frühe Neuzeit geworden und soll demnächst einen Vortrag über den Lehrer von Spinoza, kein geringerer als unser Rabbi Manasseh ben Israel, halten. So führt Menasse Gegenwart und Vergangenheit zusammen.

Die Parallelführung der beiden Biografien glückt nicht immer, auch wenn man dem Roman anmerkt, dass Menasse viel Zeit in Archiven verbracht hat. Beide Protagonisten fühlten sich in ihrer Kindheit unverstanden, beide wurden verbannt, der eine in ein Internat, der andere in eine Jesuitenschule. In der jüdischen Gemeinde von Amsterdam wird ein Kaufmann mit einem Bann belegt, weil er gegen die Speiseregeln verstoßen hat, im Wiener K-Gruppen-Milieu der siebziger Jahre wird Viktor gemaßregelt, als er sich weigert, einer Genossin die Abtreibung zu bezahlen. Das ist zu eng aneinander gerückt, um glaubhaft zu wirken. Es entsteht der Eindruck einer allzu willkürlichen Konstruktion, die Menasse allerdings kaum zufällig unterlaufen sein dürfte.

Es stellt sich die Frage, was Menasse mit der Parallelisierung der beiden Biografien im Sinn hat. Geht es ihm darum, den gegenwartsgeleiteten Blick auf die Vergangenheit kenntlich zu machen, oder wird hier behauptet, die Geschichte zweier jüdischer Personen weise vor ihrem jeweiligen geschichtlichen Hintergrund - der Inquisition in Portugal im angehenden 17. Jahrhundert und dem Holocaust - entsprechende Parallelen auf?

Vielleicht liegt die Antwort auf Menasses Haltung zur Geschichte in der Lektion, die der kleine Mané nach Beendigung der Jesuitenschule lernen muss. Denn Mané erfährt, dass die Wörter nicht bedeuten, was sie scheinen, man muss sie auslegen, um ihnen Sinn zu verleihen. Ganz anders als es das Buchstabengetreue der christlichen Bibelexegese vorsieht. Durch die intelligible Auslegung können sich die frisch zum Christentum konvertierten Juden versichern, »wir glauben an ein Leben nach dem Tod«, ohne den Verstand zu verlieren. Konsequent rückt Menasse den Gedanken, dass man Realität und Geschichte nicht einfach abbilden kann, in die Gegenwart. So erweist sich die Decouvrierung von Viktors Lehrern als »Lüge«. Viktor hatte leicht variiert deren Geburtstage vorgelesen, der historischen Wahrheit und seiner persönlichen Abscheu aber freilich einen Gefallen getan.

Es ist die Fähigkeit seiner Protagonisten, sich gegenüber der Faktizität der Welt zu behaupten, die Fakten neu anzuordnen, die Menasse interessiert. Und das gilt auch für ihr Verhältnis zur Geschichte. Die vielen Parallelen in den Biografien von Viktor und Rabbi Manasseh künden von der ewigen Wiederkehr des geschichtlichen Ablaufs. Aber gerade deswegen kommt es auf seine Veränderung an. Menasses Blick auf die Geschichte zielt auf die Befreiung von ihr und vielleicht auch auf ihre eigene.

Robert Menasse: Die Vertreibung aus der Hölle. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2001, 495 S., DM 49,80