Michael Brenner, Professor für jüdische Geschichte und Kultur

»Ein Gefühl der direkten Bedrohung«

Die Terroranschläge in den USA und in der Folge der Krieg gegen die Taliban haben die Situation in den jüdischen Gemeinden in Deutschland verändert. Jüdische Einrichtungen müssen mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen geschützt werden, während Intellektuelle offen und stärker als je zuvor Israel kritisieren oder gar sein Existenzrecht in Frage stellen. Auch den Umgang mit der deutschen Geschichte könnten die jüngsten Ereignisse beeinflussen. Der Holocaust wird weiter historisiert. Michael Brenner ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Wie ist die Stimmung in den jüdischen Gemeinden nach dem 11. September?

Die Stimmung ist nicht so viel anders als die Stimmung allgemein. Es besteht eine relativ starke Sorge. In den jüdischen Gemeinden kommt hinzu, dass bei jeder Verschärfung der allgemeinen Sicherheitslage immer die spezifische Gefahr gesehen wird. Es kommt das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung hinzu.

Ist man mit den Sicherheitsmaßnahmen, die die Bundesregierung ergriffen hat, zufrieden oder besteht nicht die Gefahr, dass jüdisches Leben als etwas wahrgenommen wird, was nur noch im Hochsicherheitstrakt stattfinden kann?

Niemand kann damit zufrieden sein, wenn jede jüdische Einrichtung von außen dadurch erkennbar ist, dass eine Polizeistreife davor steht, dass Kameras installiert sind und dass man eine Sicherheitsschleuse passieren muss.

Ich kenne aber andererseits niemanden, der sagt, weg damit, mir passen die Sicherheitsmaßnahmen nicht. Jeder hofft nur, dass sich das wieder ändert.

Ich selbst habe vor dem 11. September und vor der Verschärfung des Nahost-Konflikts im vergangenen Jahr manchmal gedacht, das ist vielleicht alles ein bisschen übertrieben. Es ist einfach unangenehm, wenn man in die Synagoge gehen will und diese Sicherheitsmaßnahmen erleben muss. Früher hab ich mich, wenn ich in den USA war, immer gefreut, dass man dort nicht durch eine Polizeisperre muss, wenn man in die Synagoge geht. Aber das wird sich jetzt vielleicht auch ändern.

Wurden die Attentate in Washington und New York von Seiten der jüdischen Gemeinden auch als antisemitische Aktionen gewertet, in dem Sinne, dass auch Israel damit gemeint war bzw. das »Finanzjudentum an der Wall Street«?

Ich denke, zunächst einmal war Amerika gemeint. Inzwischen ist das Feindbild in diesen extrem radikalen, fundamentalistischen Kreisen genauso gegen Amerika als westliche Weltmacht gerichtet wie gegen Israel oder die Juden. Der Beweis dafür ist, dass eben nicht nur New York angegriffen wurde, sondern auch das Pentagon. Im Falle des Pentagon sehe ich nicht, dass das Judentum damit gemeint gewesen sein könnte.

Andererseits hat dieser Terroranschlag natürlich mit Antisemitismus zu tun. Die Idee einer jüdischen Weltverschwörung geistert sehr stark in den Köpfen herum. Man muss beides sehen. Man kann es nicht darauf reduzieren, aber trotzdem spielt der Antisemitismus im Hintergrund eine ganz zentrale Rolle.

Nach den Anschlägen wurde betont, dass der Krieg gegen den Terror nicht den Islam als solchen meint. Der Islam wurde als friedliebende Religion dargestellt, die nur von bin Laden missbraucht werde. Andererseits wird Israel nun schärfer kritisiert als zuvor. Wie fassen Juden in Deutschland dieses Missverhältnis auf?

Das wird schon stark so empfunden. In der Presse, aber auch in der Öffentlichkeit auf der Straße, wird Israel mitverantwortlich gemacht für die Anschläge. Da muss man in aller Deutlichkeit sagen: Die Lösung des Palästina-Konflikts wird den islamischen Fundamentalismus nicht aus der Welt schaffen. Wer denkt, da sei ein direkter Konnex, der wird sich getäuscht sehen. Das geht wesentlich tiefer, und den direkten Zusammenhang herzustellen, wäre, glaube ich, falsch.

Es gibt eine Reihe von Äußerungen deutscher Intellektueller zu diesem Thema. Am 8. November etwa kritisierte Christoph Dieckmann in der Zeit eine angebliche »blinde Parteigängerei für Israel« und fragte: »Hält nicht Israel bis heute fremde Erde und büßt dafür mit Tod und tötet jeden Tag?« Günter Grass tönte, Israel begehe »kriminelle Handlungen«. Wie wird das aufgenommen?

Man muss unterscheiden. Wenn man sagt, dass die israelische Siedlungspolitik oder die gegenwärtige Regierung problematisch sind, finde ich das völlig legitim. Das kann man in den jüdischen Gemeinden genauso hören.

Aber wenn man, wie Günter Grass das getan hat, weitergeht und sagt, im Prinzip müssen sich die Israelis nicht nur aus den besetzten Gebieten zurückziehen, sondern ihren eigenen Staat bzw. die Existenz dieses Staates mehr oder weniger überdenken - wobei Grass nicht gesagt hat, dass er die Existenz in Frage stellt, da wurde er teilweise missverstanden -, wenn man über die Forderung nach einem Rückzug aus den besetzten Gebieten hinausgeht, dann ist das genau die falsche Reaktion auf die Angriffe. Diese hätten dann erreicht, was sie wollten. Zum Teil haben sie das schon. Jetzt wird Kritik an Israel und an den USA geübt, wo es eigentlich darum gehen sollte, die Verursacher des Terrors bloßzustellen.

Werden die Ereignisse die Art und Weise des Gedenkens in Deutschland verändern, indem sie, vielleicht wirksamer noch als der Mauerfall, den Holocaust weiter in die Vergangenheit rücken?

Man kann es auch andersherum sehen. Nach einer langen Zeit des Friedens ist jetzt nicht nur etwas sehr Schreckliches in der westlichen Welt passiert, sondern jeder weiß auch, dass es noch nicht vorbei ist. Es wird unser Leben in den nächsten Jahren beeinflussen. Vielleicht kann man sich, natürlich völlig anders gelagert, anhand der Gegenwart wieder mit Katastrophenszenarien der Vergangenheit identifizieren, vielleicht können diese Ereignisse auch die Geschichte wieder ins Gedächtnis rufen.

Am 9. November hatte man nicht den Eindruck, dass das Gedenken an das Pogrom in diesem Jahr eine größere Rolle spielte.

Natürlich sind die aktuellen Ereignisse im Moment präsenter. Aber ich denke, wenn man sieht, welch zentrale Rolle der Antisemitismus auch hier wieder spielt, dass vielleicht manches aus der Vergangenheit gerade jüngeren Leuten näher rückt, die gedacht haben, Antisemitismus sei etwas, was lange vergessen ist.

Sie haben 1995 in Ihrem Buch »Nach dem Holocaust« geschrieben: »Waren einst die deutschen Juden darauf bedacht, deutscher zu erscheinen als die Deutschen, so versuchen nun manche Nicht-Juden, jüdischer zu sein als die Juden.« Ist dieser Satz auch nach dem 11. September noch aktuell? Oder gilt er eher für die neunziger Jahre, für die Anfänge der so genannten Berliner Republik, als man sich gerne weltoffen gab und die Beschäftigung mit dem Judentum in gewissem Sinne eine Mode war?

Es war tatsächlich in den neunziger Jahren so, dass man glaubte, über Klezmer-Festivals und ähnliche Veranstaltungen eine Art kulturelle Wiedergutmachung zu leisten, dabei oft aber auch Missverständnisse schuf. Diese Folklorisierung hat abgenommen, und ich finde das angenehm.

Ist es nicht so, dass diese Modewelle abgeebbt ist und man sich heute schon mal traut, Israel offen zu kritisieren?

Ich lese zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung, und da ist ein ganz klarer Wandel zu erkennen. Es gibt unverhohlene Kritik, die manchmal weitergeht, als nur die Tagespolitik oder die Regierung zu kritisieren.

Es ist schade, wenn dann Vertreter der jüdischen Gemeinden eingreifen müssen, denn es wäre eigentlich auch Aufgabe der nicht-jüdischen Öffentlichkeit zu sagen: Es gibt vielleicht doch ein besonderes Verhältnis Deutschlands zu Israel. Diese Kritik, sobald sie existenzbedrohend wird, sollten wir unterlassen. Denn gerade in einer Situation, da auch Israel angegriffen wird, wird das natürlich in Israel mit Verwunderung aufgenommen.