Revolte in der algerischen Kabylei

Kein Bulle, nirgends

Ausgerechnet die Abwesenheit der Polizei veranlasst viele in der aufständischen Kabylei, den Dialog mit der Regierung zu suchen.

Verhandeln oder nicht verhandeln? An dieser Frage spaltet sich zunehmend die Revolte in der berbersprachigen Region Algeriens. Trifft Premierminister Ali Benflis an diesem Donnerstag wie angekündigt auf angebliche Repräsentanten der protestierenden Kabylei, so dürfte das den schwelenden Konflikt zwischen unterschiedlichen rebellierenden Gruppen auf die Spitze treiben. Seit Mitte April befindet sich die rund 80 Kilometer östlich der Hauptstadt beginnende Kabylei in einem unbewaffneten Aufstand (Jungle World, 38/01). Nun kann sich das Regime in Algier erstmals die Hände reiben.

Zunächst löste es Verwunderung aus, als Ende September in einem Kommuniqué des Präsidentenamts zu lesen war, man sei bereit, sich mit Vertretern der kabylischen Protestbewegung zu treffen. Am 4. Oktober sagte Premierminister Ali Benflis dann, er habe soeben eine Delegation der Aufständischen empfangen. Zugleich erklärte er einen Teil ihrer Forderungen für legitim.

Doch rasch stellte sich heraus, dass der Regierungschef lediglich eine Phantomdelegation empfangen hatte. So sagte Arab Aïssa, der Vater eines im April erschossenen jugendlichen Demonstranten und Mitglied der angeblichen Delegation, der Tageszeitung Liberté, er habe lediglich auf Angebote reagiert, in informellem Rahmen über den Status von Familien der Repressionsopfer zu diskutieren. Keinesfalls habe er irgendein Mandat gehabt, mit der Regierung zu verhandeln.

Andere Mitglieder der Gruppe, die den Premier getroffen hatte, bekräftigten dagegen auf einer Pressekonferenz am 14. Oktober in Bejaïa, es sei sinnvoll Verhandlungen aufzunehmen. Der Leiter der Pressekonferenz, Cherraft Mohammed Chérif, gab sich dabei als Mitglied der kabylischen Regionalpartei FFS zu erkennen. Wahrscheinlich ist, dass diese Partei - die im Frühjahr vollkommen von den Protesten überrollt worden war - nunmehr als »Vermittler« zwischen Regime und Aufrührern wieder Einfluss gewinnen will.

Eine weitere Pressekonferenz von, wie sie angekündigt wurden, »Dissidenten« der kabylischen Bewegung fand am 25. Oktober statt, dieses Mal in Algier. Die Teilnehmer blieben überwiegend anonym und bezeichneten sich als »freie Bürger der Kabylei«. Sie formulierten eine pointierte politische Kritik an den, wie sie sich ausdrückten, »Extremisten« innerhalb der Protestorganisationen, grenzten sich aber - jedenfalls verbal - auch von der Staatsmacht ab. Sie beklagten das in vielen Städten der Kabylei einkehrende Chaos, die »blockierte und festgefahrene« Situation und die Weigerung, mit der Regierung zu verhandeln.

Mindestens in zwei Punkten dürfte ihnen die Zustimmung eines großen Teils der kabylischen Bevölkerung sicher sein. Zum einen wird das alltägliche Leben in vielen Städten der Region zunehmend schwieriger. Die Staatsmacht hat sich teilweise zurückgezogen, und die örtliche Bevölkerung sich selbst überlassen - ohne dass bisher eine effektive Gegenmacht organisiert wurde, die in der Lage wäre, sie zu ersetzen. Die Revoltierenden lassen die Gendarmerie - eine dem algerischen Verteidigungsministerium unterstellte Spezialeinheit für Aufstandsbekämpfung - nicht in die kabylischen Städte. Gleichzeitig hat aber auch die gewöhnliche Polizei ihre Tätigkeit weitgehend eingestellt, vermutlich auf Anordnung der Zentralregierung - mit der Folge, dass sich schon während der Sommermonate Einbrüche, Überfälle und mancherorts das Eindringen islamistischer Terrorgruppen häuften. Und bereits im August war in der Stadt Tizi Ouzou ein blühender Schwarzmarkt entstanden.

Zwar haben die so genannten Koordinationen, die die Revolte organisieren, die Polizei mehrfach nachdrücklich aufgefordert, zumindest ihren grundlegenden Aufgaben nachzukommen, und in einigen Fällen selbst Kriminelle festgesetzt und der Poliziei übergeben. Doch wahrscheinlich setzt man in Algier darauf, die aufrührerische Kabylei so lange verkommen zu lassen, bis die Bevölkerung nach einer Rückkehr der Autorität des Staates ruft.

Zum anderen wussten die führenden Kräfte der Protestbewegung ihren relativen Erfolg nicht zu nutzen. Eine Ursache dafür ist eine moralisierende Haltung, die vor allem darauf abzielt, sich bloß nicht die Hände schmutzig zu machen. Auch das verhinderte Verhandlungen mit dem Regime, dem in Algerien von vielen eine geradezu magische Allmacht zugeschrieben wird.

Im Oktober 1988 war die politische Macht in Algerien durch die damalige Jugendrevolte schwer erschüttert worden. Doch in den folgenden Jahren gelang es dem politischen Islamismus, vor dem Hintergrund der weltweiten Niederlage des Sozialismus vorübergehend zum Hoffnungsträger der Armen zu werden. Der anschließende Bürgerkrieg, die sich auf dem Boden der islamistischen Bewegung entwickelnde Gewalt und der Aufstieg von Warlords haben jedoch in den neunziger Jahren alle Hoffnungen auf soziale Veränderung in Blut ertränkt.

Diese, in den Augen vieler unerklärliche, katastrophenhafte Entwicklung, aber auch die Tatsache, dass nach dem Scheitern der islamistischen Machtübernahme die alte Elite immer noch im Sattel sitzt, haben eine Menge verschwörungstheoretischer Deutungen hervorgebracht. In ihnen erscheint die amtierende politische Elite als geradezu übermächtige Kraft, die hinter allen möglichen Phänomen im Verborgenen die Fäden zieht. Gerade in der Kabylei, die traditionell regierungsfeindlich ist und in der sich zugleich die islamistische Bewegung kaum entwickelt hat, sind solche Deutungen populär.

Diese Haltung trug dazu bei, dass der Großteil der Bewegung Verhandlungen mit der Regierung stets ablehnte. Dabei traten insbesondere die moderneren linken und gewerkschaftlichen Kräfte, die etwa im Raum Bejaïa zeitweise in den Protesten den Ton angaben, bald dafür ein, politische Verhandlungen zu suchen. Diese sollten einsetzen, solange die Bewegung sich im Aufstieg befinde und aus einer Position der Stärke heraus verhandeln könne - unter der Bedingung transparenter Verhandlungsführung. Die Protestierenden sollten sich dadurch ihrer eigenen Stärke bewusst werden und diese gezielt einsetzen. Diese Argumentation konnte sich aber nie durchsetzen.

Im Laufe der Zeit fanden dann diejenigen mehr Zustimmung, die eine festgefahrene Situation konstatierten und aus diesem Grund Verhandlungen forderten. Ein Teil der Vertreter dieser Postion gehört sicherlich schon immer zur sozialen Basis des Regimes, findet aber jetzt aufgrund der chaotischen Situation wieder Gehör.

Inzwischen nehmen die Konflikte zwischen diesen Positionen handfeste Formen an. Ende Oktober etwa plünderten rund 60 Personen den Sitz der Koordination der Stadt Tizi Ouzou, entwendeten Geld und das Faxgerät. Darunter befanden sich Mitglieder einer konkurrierenden Gruppe, aber auch mindestens vier ehemalige Mitglieder der Koordination, die zuvor als Vertreter eines Dialogs mit der Regierung ausgeschlossen worden waren.

Die gesellschaftliche Mobilisierung für die Forderungen der Revoltierenden ist zwar nach wie vor vorhanden. Am 1. November hatten 20 000 bis 30 000 Personen im kabylischen Ighil Imoula demonstriert, an einem symbolischen Ort - dort war am 1. November 1954 der erste Text der bewaffneten Befreiungsbewegung gegen die Kolonialmacht Frankreich gedruckt worden. Doch ihre Bedeutung als politischer Faktor scheint die Bewegung in der Kabylei zu verlieren.