Polizeiaktion gegen Hungerstreikende

Zurück zum Sterben

In Istanbul haben Polizeieinheiten gewaltsam den Hungerstreik von Angehörigen politischer Gefangener beendet.

In den türkischen Hauptnachrichten konnten die Zuschauer vergangene Woche verfolgen, wie Haydar Bozkurt als lebende Fackel fast verbrannte. Doch was dann folgte, zeigte der Sender nicht: Die Polizei eröffnete das Feuer auf den Wehrlosen. Schwer verletzt wurde Haydar Bozkurt »in das Leben zurückgeführt«, wie die Behörden ihre bewaffnete Aktion zur Beendigung des Hungerstreiks von Angehörigen politischer Gefangener bezeichneten.

Am 5. November stürmten 3 000 Einsatzkräfte der türkischen Polizeisondereinheiten das Istanbuler Armenviertel Kücük Armatlu. Zuerst erschossen sie drei Personen vor einem kleinen Haus, in dem sich ein Teil der Hungerstreikenden seit dem Frühjahr aufhält, und warfen Tränengasbomben in die engen Räume. Ein Bewohner erstickte. Anschließend stürmte eine Hundertschaft das Gebäude und verletzte dabei zehn Menschen.

Als sich Haydar Bozkurt daraufhin vor den Augen der Sicherheitskräfte anzündete, wurde er von Polizisten angeschossen. Nach Angaben von Augenzeugen wurden zehn weitere Personen durch Schüsse und kleine Brandsätze verletzt.

Der Istanbuler Polizeichef, Hasan Özdemir, behauptete zwei Tage später, die Opfer hätten sich selbst verbrannt, niemand sei von den Einsatzkräften erschossen worden. Tatsächlich wiesen aber mindestens zwei der vier Toten Schussverletzungen auf.

Ursprünglich von der revolutionären Volksbefreiungsfront (DHJP/C) als Hungerstreik ihrer inhaftierten Mitglieder organisiert, haben sich seit über einem Jahr auch Angehörige der politischen Gefangenen und Mitglieder der Solidaritätsbewegung landesweit dem politisch fragwürdigen Todesfasten gegen die Haftbedingungen in den türkischen Gefängnissen angeschlossen. Die Proteste richten sich insbesondere gegen die Einführung neuer Sicherheitstrakte des so genannten F-Typs.

Die Regierung in Ankara verweist zwar gerne auf einen Bericht der Menschenrechtskommission des Europarats. Darin wird der Türkei bescheinigt, dass die neuen Haftanstalten dem europäischen Standard entsprächen. Allerdings erfolgte die EU-Visite, bevor die Gefängnisse in Betrieb genommen wurden - über die realen Bedingungen war daher in dem Bericht gar nichts zu erfahren. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hat die Haftvollzugspraxis in den neuen Sicherheitstrakten inzwischen scharf kritisiert.

So können die Gemeinschaftsräume in den Gefängnissen wegen entsprechender Klauseln im türkischen Anti-Terror-Gesetz nicht genutzt werden. Besuche von Angehörigen und Anwälten werden willkürlich genehmigt oder verweigert, die Gefangenen mit Isolationshaft bestraft. Hungerstreikende werden gegen ihren Willen zwangsernährt und den politischen Gefangenen Bücher und Zeitungen verweigert.

Ende letzten Jahres war der Konflikt um die neuen Haftanstalten schon einmal eskaliert. Nachdem sich der gesundheitliche Zustand zahlreicher Hungerstreikender lebensbedrohlich verschlechtert hatte, entschloss sich die Regierung zum Handeln. Am 19. Dezember 2000 stürmten Spezialeinheiten während einer »Operation zur Rückführung in das Leben« die Gefängnisse Bayrampasa und Ümraniye in Istanbul und die Haftanstalt Çanakkale. 29 Häftlinge und zwei Soldaten starben bei der Aktion. Das türkische Justizministerium erklärte damals, die Gefangenen hätten sich aus Protest selbst verbrannt. Zudem hätten einige Gefangene auf die Sicherheitskräfte geschossen und so die Operation eskalieren lassen.

Ein halbes Jahr später veröffentlichte die türkische Tageszeitung Radikal Teile eines gerichtsmedizinischen Gutachtens, die den Schluss nahe legen, dass die Gefängnisse um jeden Preis geräumt werden sollten und der Tod von Häftlingen von Beginn an einkalkuliert war. So wurde nachgewiesen, dass die Frauen in der Zelle C1 des Gefängnisses Bayrampasa durch eine zu hohe Dosis an Reizgas, das sich entzündete, starben. Denn bei fünf von ihnen wurde als Todesursache Verbrennen als Folge des Gaseinsatzes diagnostiziert, eine weitere Frau kam durch eine Gas- und Rauchvergiftung um. Ballistische Untersuchungen ergaben, dass in den drei Gefängnissen keineswegs aus den Zellen heraus geschossen wurde, sondern ausschließlich die Sicherheitskräfte Feuerwaffen einsetzten.

Bei zehn Gefangenen diagnostizierte man Schussverletzungen als Todesursache, drei starben an Vergiftungen, einer an Schlagverletzungen und einer an den Folgen einer durch eine Reizgasbombe ausgelösten schweren Kopfverletzung. Die beiden Soldaten, die bei der Aktion starben, wurden durch Kugeln aus Schnellfeuerwaffen getötet - woraus die Ärzte folgerten, dass sie von ihren eigenen Kameraden erschossen wurden.

Kurz vor dem brutalen Einsatz im vergangenen Dezember hatte der türkische Justizminister Sami Türk noch Kompromissbereitschaft signalisiert und erklärt, die Regierung werde die Organisation der Sicherheitstrakte noch einmal überdenken und zunächst keine politischen Gefangenen dorthin verlegen. Doch nach dem Einsatz wurden innerhalb weniger Tage alle politischen Gefangenen in die Spezialgefängnisse überführt. Der Hungerstreik wurde jedoch fortgesetzt.

Nun begannen allerdings vor allem entlassene Häftlinge und Angehörige, insgesamt über 200 Menschen, sich an dem Todesfasten zu beteiligen. Das kleine Haus in Kücük Armatlu wurde deshalb in den vergangenen Monaten für Solidaritätsgruppen wie den Hilfsverein für Familien und Angehörige der Gefangenen und Verurteilten in der Türkei (Tayad) oder das Komitee gegen Isolationshaft (IKM) zum Symbol des Märtyrertums - in dem zunehmend aussichtslosen Kampf gegen die F-Typ-Gefängnisse.

In dem »Todeshaus«, wie es die türkischen Medien bald nannten, starb zuerst, am 15. April, die 19jährige Studentin Canan Kulaksiz, zehn Tage später die 30jährige Fenay Hanoglu, Mutter zweier Kinder und Besitzerin des Hauses. Nach weiteren zwei Monaten folgte die 21jährige Zehra Kulaksiz.

Je länger das Sterben aus Solidarität andauerte, desto mehr verdrängte ein quasireligiöser Charakter den politischen Sinn dieser Protestform. Die F-Typ-Gefängnisse sind durchgesetzt und in Betrieb genommen. Auch in der EU kritisiert niemand mehr die neuen Vollzugsanstalten. »Wir können den Türken doch nicht vorwerfen, dass sie ein modernes Gefängnissystem einführen wollen«, erklärte Jean-Christophe Filori, der Sprecher des EU-Erweiterungskommissars Günter Verheugen bereits im April auf Anfragen von Menschenrechtsorganisationen nach dem 14. Toten des Hungerstreiks.

Die türkische Polizei setzte auf Zeit. Die Situation in den Gefängnissen verbesserte sich nicht, aber der Hungerstreik und das »Todeshaus« fanden immer weniger Beachtung. Die meisten türkischen und internationalen Medien vermeldeten nur noch aktualisierte Zahlen der freiwillig Verhungerten.

Lediglich in den Publikationen von Organisationen wie Tayad und IKM war zu lesen, dass die türkische Armee bereits am 17. August das Armenviertel umstellte, die Pässe der Bewohner kontrollierte und Sympathisanten der als Märtyrer gefeierten Todgeweihten am Besuch der drei Häuser, in denen gefastet wurde, hinderte.

Nach Aussagen von Tayad versuchten die Sicherheitskräfte erstmals am 25. September, das Viertel zu stürmen und das Todesfasten zu beenden. Nur die Anwesenheit einer Beobachterdelegation aus Europa habe sie schließlich davon abgehalten. Die Aktion am 5. November erfolgte daher nicht unerwartet, sie wurde allerdings ohne sichtbaren Grund mit äußerster Brutalität durchgeführt: Weder fanden sich in dem Haus Waffen, noch hielten sich polizeilich gesuchte Personen dort auf.

Der Polizeipräsident gibt als Grund für die Aktion auch nur vage einen Verdacht auf »Propaganda für illegale Organisationen« an. Mit der gleichen Begründung wird Medienvertretern, die nicht mit der Polizei kooperieren, derzeit das Filmen in Kücük Armatlu verweigert.

Auch die Situation in den Haftanstalten scheint erneut zu eskalieren. Nachdem sich nach den Polizeiübergriffen vom 5. November in drei F-Typ-Gefängnissen mehrere Häftlinge selbst in Brand gesetzt hatten, ist die militärische Präsenz vor und in den Gefängnissen verschärft worden. Dem Staat das Entscheidungsmonopol über den eigenen Tod streitig zu machen, scheint der verbleibende politische Sinn der Selbsttötungsaktionen in der Türkei zu sein.