Ole Weidmann zum Prozess wegen Rostock-Lichtenhagen

»Beweise wurden nicht gesichert«

Seit dem 20. November findet vor der Jugendkammer des Landgerichts Schwerin ein Prozess zu den rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen statt. Am Abend des 24. August 1992 hatten 500 Naziskinheads die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast) mit Molotow-Cocktails angegriffen und sie in Brand gesetzt. Angeklagt sind nun drei Naziskins aus Schwerin wegen versuchten Mordes, schwerer Brandstiftung, schweren Landfriedensbruchs und Verstoßes gegen das Waffengesetz. Ole Weidmann vertritt gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Thomas Herzog den Nebenkläger Nguyen Do Thinh, der in der Brandnacht zu den Angegriffenen gehörte.

Wer trägt die Verantwortung dafür, dass es in diesem Verfahren erst neun Jahre nach der Brandnacht und sechs Jahre nach der Anklageerhebung zum Prozess kommt?

Die Staatsanwaltschaft Schwerin hat schon über zwei Jahre dafür gebraucht, die Anklageschrift anzufertigen. Die Anklage richtete sich gegen vier Personen, die gemeinsam mit anderen Rechten von Schwerin nach Rostock gefahren sind und dort das Haus der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber und das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter angegriffen haben. Drei andere aus der Schweriner Gruppe wurden bereits im Frühjahr 1993 vor dem Amtsgericht Rostock angeklagt und wegen Landfriedensbruch und versuchter schwerer Brandstiftung zu Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt.

Nach unserem Kenntnisstand waren zu diesem Zeitpunkt auch die Ermittlungen zu den jetzt in Schwerin vor Gericht stehenden Männern abgeschlossen. Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft erst im Frühjahr 1995 Anklage gegen sie erhoben. Die nach der Anklageerhebung zuständige 3. Große Strafkammer des Landgerichts Schwerin hat dann über sechs Jahre das Hauptverfahren nicht eröffnet.

Welche Auswirkungen hat es, dass zwischen dem Zeitpunkt der Tat und der Eröffnung des Verfahrens so viel Zeit vergangen ist?

Eine Folge ist, dass der Vorsitzende Richter Horst Heydorn fünf Tage vor der Prozesseröffnung das Verfahren gegen den Angeklagten Sven M. wegen Verjährung einstellen konnte. Sven M.'s Taten wurden schon in der ursprünglichen Anklageschrift lediglich als schwerer Landfriedensbruch gewertet. Die entsprechende Verfolgungsverjährungsfrist von fünf Jahren war daher abgelaufen.

Unbefriedigend ist in diesem Zusammenhang die Begründung des Landgerichts, dass das Verfahren deshalb nicht vorher eröffnet werden konnte, weil sich die zuständige 3. Große Kammer vorwiegend mit unaufschiebbaren Haftsachen beschäftigen musste. Dabei hätte der Vorsitzende Richter Horst Heydorn nur jeweils am Ende eines Jahres eine Überlastung der Kammer feststellen müssen, um eine Änderung des Geschäftsverteilungsplanes zu erreichen. Zuständigkeiten können darüber neu verteilt werden und der Prozess hätte wesentlich eher stattfinden können. Doch das hat Heydorn nicht gemacht.

Die Nebenklage hat angekündigt, gegen die Einstellung des Verfahrens von Sven M. Beschwerde einzulegen.

Die Nebenklage ist hinsichtlich Sven M. nicht zugelassen worden. Diese Nichtzulassung wäre nicht möglich gewesen, wenn seine Beteiligung an den Angriffen zumindest als Beihilfe zum versuchten Mord gewertet worden wäre. Eine Verfolgungsverjährung wäre dann auch nicht eingetreten. Und nach dem, was uns bisher bekannt ist, muss davon ausgegangen werden, dass Sven M. sich in der angreifenden Menge befand und auch selbst aktiv war.

Die Anwälte der verbliebenen drei Angeklagten haben eine Einstellung des Prozesses beantragt, da das Verfahren zu lang gedauert habe.

Dem steht entgegen, dass zunächst einmal eine überlange Verfahrensdauer, deren Art und Ausmaß vom Gericht festgestellt werden müsste, allenfalls bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden kann. Zudem werden die Beschuldigten wohl kaum eine besondere Belastung wegen der Verfahrensdauer geltend machen können.

Das Justizministerium bezeichnet das verschleppte Verfahren in Schwerin als »Ausrutscher«, und auch die Staatsanwaltschaft Rostock behauptet, sie habe mit über 40 Verurteilungen im Zusammenhang mit der Brandnacht von Lichtenhagen saubere Arbeit geleistet.

Gegen Personen, die das Haus angegriffen haben, hat es unseres Wissens nach bisher nur ein Verfahren gegeben, und zwar gegen die bereits erwähnten drei Personen aus der Schweriner Gruppe. Alle anderen Verfahren beziehen sich auf Taten, die im Umfeld der Ereignisse oder nach dem Brand begangen worden sind. Darunter sind im Übrigen auch Prozesse gegen AntifaschistInnen, die damals versucht haben zu intervenieren.

Wie kann es sein, dass insgesamt nur sechs Leute wegen Molotow-Cocktail-Würfen zur Verantwortung gezogen werden, obwohl die Fernsehbilder jener Nacht Dutzende von Skinheads zeigten, die Brandflaschen warfen?

Offensichtlich hat es die Polizei nicht für notwendig gehalten, Beweise zu sichern. Sie hatte sich schon vorher zurückgezogen. Dabei hätte sie sich zumindest wie etliche Kamerateams auf das Dach einer 30 Meter vom Tatort entfernten Kaufhalle stellen können. Bisher ist nicht klar, inwieweit von den Ermittlern versucht wurde, sich wenigstens im Nachhinein Filmmaterial zu beschaffen. Die Opfer jener Nacht wurden nicht einmal polizeilich vernommen und zu ihren Erinnerungen befragt.

Sind denn wenigstens die politisch und polizeilich Verantwortlichen wie die beiden Polizeieinsatzleiter Siegfried Kordus und Jürgen Deckert zur Verantwortung gezogen worden?

Weder durch den Untersuchungsausschuss des Schweriner Landtages noch durch die strafrechtlichen Ermittlungen ist es gelungen, den Verlauf des katastrophalen Polizeieinsatzes während der drei Tage, der im Abzug der Polizeikräfte am 24. August gipfelte, vollständig aufzuklären. Die entscheidenden Fragen wurden nicht beantwortet: Plante die Polizei ihr Vorgehen im Vorfeld? Wenn ja, wer war daran beteiligt? Oder waren die Ereignisse nur das Ergebnis einer Verkettung von unglücklichen Zufällen?

Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass sich noch am Nachmittag vor dem Brand der damalige CDU-Bundesinnenminister Rudolf Seiters, der Leiter des Bundesgrenzschutzes-Ost Detlef Fritsch, der CDU-Landesinnnenminister Lothar Kupfer und der Rostocker Polizeidirektor Siegfried Kordus getroffen haben, ohne dass dem Ereignis angemessene Entscheidungen gefällt worden wären.

Hat es am Abend des 24. August denn wirklich ein so genanntes Stillhalteabkommen zwischen der Polizei und Vertretern der Rechten gegeben?

Auch das wurde bisher nicht geklärt. Wenn es einen derartigen Pakt gegeben hat, muss man danach fragen, zu welchem Zeitpunkt verhandelt wurde und mit wem. Und natürlich, was den Einsatzleiter Jürgen Deckert dazu bewegte, im Beisein des Oberstaatsanwaltes Neumann über eine Stunde lang so gut wie nichts mehr zu unternehmen. Allerdings sind die Verfahren wegen fahrlässiger Brandstiftung gegen Deckert und Kordus eingestellt worden.

Nach dem ersten Prozesstag in der vergangenen Woche drängt sich der Eindruck auf, dass sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht das Verfahren am liebsten so schnell wie möglich einstellen würden. Ist das auch Ihre Befürchtung?

Darüber lässt sich nur spekulieren. Eine Einstellung wäre sicherlich der Weg für das Gericht, sich weitere Arbeit zu ersparen. Nicht nur für die Nebenkläger wäre das fatal. Die Ereignisse sind auch nach neun Jahren nicht vergessen, und es ist weiterhin nicht nachvollziehbar, wie es nach den Angriffen, die bereits drei Tage andauerten, zugelassen werden konnte, dass das Haus in Brand gesetzt wurde.