Rudolf Augstein und die Amerikaner

Schrank ohne Tassen

Aus der deutschen Geschichte lernen heißt für Rudolf Augstein die Amerikaner belehren.

Rudolf Augstein ist der »Journalist des Jahrhunderts«, es müsste sich also einiges von ihm lernen lassen. Am vergangenen Montag war zu lernen, wie ein guter Zeitungskommentar beginnt. Nämlich so: »Ein Gespenst geht um in Deutschland.« Obendrein gab es eine Lektion in kreativer Grammatik: »Offensichtlich fühlt sich Washington durch eine Entscheidung der Nato ermutigt, die durch die Anschläge in New York und Washington auf amerikanischen Druck hin den Bündnisfall festgestellt hat, mit für alle Mitglieder bindenden Maßnahmen.«

Nebenbei klärte er seine Leser über den Anti-Amerikanismus auf, denn so hieß es, das Gespenst, das umging in Deutschland. Augstein gilt nicht nur als eine unserer edelsten Federn, sondern auch als bedeutender Historiker. Das »Dritte Reich« und der Zweite Weltkrieg sind seine Lieblingsthemen, und je länger er nachdenkt, desto unschuldiger bleiben die Deutschen zurück.

Manche, unter ihnen Henryk M. Broder, halten ihn für einen Antisemiten. Wer seine Beiträge zur Debatte um das Holocaustmahnmal und zur Auseinandersetzung zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis gelesen hat und sich an das Wort von den »Haifischen im Anwaltsgewand« erinnert, die uns zwängen, »in der Mitte der wieder gewonnenen Hauptstadt Berlin« ein »Schandmal« zu errichten, muss diesem Urteil zustimmen. Denn wer Augstein nicht für einen Antisemiten hielte, sondern bloß für ein bisschen bescheuert, hätte es mit dem seltsamen Fall eines Kapitalisten zu tun, der die Kapitalisten hasst, wenn sie in der Wall Street sitzen, und müsste erklären, warum der Geschäftemacher die Geschäftemacherei verachtet, wenn Amerikaner, also Juden, sie betreiben.

»Noch nie ist die Menschheit einer einzigen, vorgeschriebenen Linie gefolgt. Das werden nun auch die Vereinigten Staaten erfahren müssen, deren Losungswort 'Rache' ist«, schrieb Augstein am 5. November mit knapp zweimonatiger Verspätung. »Objektiv besehen, ist der Angriff auf die Twin Towers und das Pentagon das schwerste Unglück, das Einzeltäter Menschen zufügen können: über 4 800 Tote.« Er meinte natürlich das schwerste Unglück, das Einzeltäter bisher verursacht haben. Dass der bedeutendste Journalist des 20. Jahrhunderts weiter denkt als von zwölf bis Mittag und besser schreibt als jeder begabte Vierjährige, darf man halt nicht verlangen.

»Aber Staaten können (sich) mehr leisten«, fuhr er fort. »Präsident Truman ließ über Hiroschima und Nagasaki Atombomben abwerfen: 340 000 Tote. Der amerikanische Präsident hat sich im August 1945 zweifellos eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht. Die Sheriff-Gesinnung, die in den USA nun einmal Trumpf ist, hat sie siegreich durch zwei Weltkriege geführt. Der Erste wurde durch die geistige Trägheit und den Größenwahn des Kaisers Wilhelm II. ausgelöst, für den Zweiten ist Adolf Hitler mit seiner Mischung aus deutscher Überheblichkeit und seiner eigenen Untergangssucht allein verantwortlich.«

Also war, und das musste endlich einmal gesagt werden, auch Hitler ein Einzeltäter. Dass er seiner eigenen Behauptung, der Angriff auf die Twin Towers und das Pentagon sei das schwerste Unglück gewesen, das Einzeltäter der Menschheit zufügen können, zehn Zeilen später widersprach, fiel Augstein dabei nicht auf.

Ganz Europa wurde zunächst von der Trägheit des einen, dann von der Überheblichkeit des andern verwüstet. »'A la guerre comme à la guerre' - 'der Krieg ist nun mal so, wie er ist', trösteten sich die als erste betroffenen Franzosen.« Denn der Zweite Weltkrieg war nicht anders als der Erste, über den Einmarsch der Deutschen, über die Verbrechen der Wehrmacht und der SS, über die Deportation und die Ermordung der Juden trösteten die Franzosen sich mit dem Chanson, der Krieg sei nun einmal so, wie er ist, und man fragt sich, wie dieselbe Weisheit wohl auf Polnisch, Russisch, Serbokroatisch, Griechisch, Italienisch oder Hebräisch klang. Vor allem aber fragt man sich: Hat der Mann noch alle Tassen im Schrank? Hat er jemals alle Tassen im Schrank gehabt?

Eines war immerhin sicher: »Wer so vorgeht wie jetzt die Amerikaner in Afghanistan, der sorgt nicht für eine Eindämmung von Terror - sondern fördert seine Ausbreitung. Wer ein bitterarmes Land in Schutt und Asche legt, der darf sich nicht wundern, wenn sich die Stimmung gegen ihn zu kehren beginnt.«

Es scheint aber doch so, als beginne sich nur die Stimmung derjenigen zu kehren, die schon immer etwas gegen die Amerikaner hatten, die ihnen Kriegsverbrechen in Hiroshima und Nagasaki vorwerfen und eine Sheriff-Gesinnung. Denn »seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 haben sich amerikanische Politiker in den Wahn hineingesteigert, auf niemanden mehr Rücksicht nehmen zu müssen. Keine Regierung hat diesen Hochmut so vorexerziert wie die von George W. Bush. Da in den USA offensichtlich wertvollere Menschen leben als anderswo, brauchen sie auch einen eigenen Schutzschild gegen Atomraketen.«

Der amerikanische Hochmut des George W. Bush erinnert natürlich an Hitlers deutsche Überheblichkeit, und wenn wertvollere Menschen sich einbilden, sie bräuchten einen Schutz, dann muss man wohl von Rassenwahn sprechen. Ist nicht, um den Gedanken ad absurdum zu treiben, die Raketenabwehr ein anderes Auschwitz?

Am 5. November war »klammheimliche Freude zu spüren über jeden Fehlschlag der Amerikaner, über jede politische Fehleinschätzung«. Um sie zu vernehmen, brauchte Rudolf Augstein nur in sich selbst hineinzuhorchen. Was aber die Einschätzungen der Amerikaner betrifft, so scheinen sie sich inzwischen, soviel man weiß und bis auf Weiteres, als zutreffender erwiesen zu haben als die ihres historisch gebildeten und sprachgewaltigen deutschen Kritikers.

Der Irrtümer, behauptete Augstein, gebe es viele. Allerdings konnte er nur einen einzigen nennen: »Wieder haben CIA und Pentagon, wie in Washington inzwischen zugegeben wird, einen Gegner weit unterschätzt.« Inzwischen scheint es, als hätte die ganze Welt, außer der amerikanischen Regierung, diesen Gegner weit überschätzt. Und was Ussama bin Laden betrifft, so glaubt Augstein, die Amerikaner zweifelten selbst, »dass sie ihn kriegen. Alles spricht dafür, dass sich Osama Bin Laden im Kreise der schattenhaften Taliban befindet, gut geschützt von diesen unappetitlichen Gotteskriegern, von denen wir so wenig wissen. Von denen nur sicher ist: Einen Märtyrer können sie jetzt gut gebrauchen.« Und weil sie einen Märtyrer gut gebrauchen können, deshalb beschützen sie ihn und deshalb werden die Amis ihn nicht kriegen.

»Bereits Alexander der Große (und der wusste von Erdöl noch nichts) hat erkannt, dass man dieses Gebiet wohl durchqueren kann. Aber nicht erobern.« Das »Großkapitalisten-Kabinett des Texaners« George Bush weiß zwar von Alexander dem Großen nichts und glaubt deshalb wohl, Afghanistan erobern zu können, macht aber bisher kaum Anstalten. Trotzdem mahnte Augstein: »Man achte bei jedem Schachzug Bushs auf die Ölinteressen seiner Leute.«

Der Krieg ist nun mal so, wie er ist, deshalb geht es auch in diesem ums Öl. Nur die gutmütigen Deutschen lassen sich einreden, es gehe um Sicherheit, um zivilisatorische Werte und um Moral. Und Augstein fragte sich, »warum wir im vorauseilenden Gehorsam Pläne der US-Regierung mittragen sollen, die wir nicht kennen und auf die wir keinen Einfluss nehmen dürfen«.

Nein, so geht es nicht weiter. Deshalb verlangte Rudolf Augstein, von dem man bisher nicht gewusst hatte, dass auch noch ein Antiimperialist in ihm steckt, am 19. November: »Deutschland muss seine Beziehung zu den Vereinigten Staaten überdenken.«