Die Folgen der Anschläge auf die USA

Ins Gesicht gespuckt

Wie die Linke den traditionellen Antiimperialismus in Afghanistan wiederentdeckt.

Seit den Anschlägen und dem Krieg in Afghanistan hat die deutsche Linke vor allem einen Gegner ausgemacht: die imperialistischen USA. Jahrelang hat sie sich kaum für Afghanistan, jenes merkwürdige Land am Ende der Welt, interessiert. Doch seitdem US-Kampfjets dort im Einsatz sind, füllen die linken Spezialisten die ihnen verbliebenen Gazetten. Seit Jahren, so wissen sie zu berichten, grübeln US-Strategen darüber, wie Mittelasien endlich unter Kontrolle zu bringen sei. Detailliert zählen die linken Empiristen die Bodenschätze auf, akribisch zeichnen sie die geplanten Routen der Pipelines nach. Plötzlich wissen sie, was wenige Monate zuvor vermutlich kaum jemand für möglich gehalten hätte. Dieses Land sei der geostrategische Schlüssel für das 21. Jahrhundert. Die mörderischen Anschläge kommen daher im Grunde für die USA wie gerufen, heißt es nun unverblümt in vielen Kommentaren.

Selbst in einer ansonsten jeder postmodernen Koketterie unverdächtigen Zeitschrift wie konkret ist nun alles möglich. Wurden die Flugzeuge am 11. September vielleicht vom Boden aus in das World Trade Center gelenkt? Gab es am Ende gar keine Entführer? Steckt womöglich doch die CIA dahinter, wird dort gefragt.

Seit dem 11. September sei nichts mehr, wie es einmal war, schrieben die bürgerlichen Zeitungen. Ein Teil der Linken reagiert umgekehrt. Nichts hat sich verändert. Stattdessen entdeckt sie den traditionellen Antiimperialismus wieder und analysiert den Krieg mit den Kategorien des 19. Jahrhunderts: Kanonenboote, Bodenschätze, Öl. Viel mehr hat sie nicht zu sagen.

In einer merkwürdigen Verdrehung von Ursache und Wirkung werden die Angegriffenen als die eigentlichen Aggressoren dargestellt. Kein Wunder also, dass die linken Analysen auch an einem zweiten Punkt versagen: Israel. Denn was für die mächtige USA gilt, stimmt erst recht für den kleinen Satan.

»Jetzt ist die Zeit des israelischen Staatsterrorismus«, kommentierte etwa die linke Schweizer Wochenzeitung WOZ nach den Selbstmordanschlägen der vergangenen Woche. »In Jerusalem sieht man die wahllose und brutale US-amerikanische Gewalt in diesem Kreuzzug, die Tötung hunderter ZivilistInnen, als Lehrstunde.« Israel wolle nun die »Gelegenheit ausnützen und das Gleiche mit den PalästinenserInnen machen«, heißt es weiter.

Dabei lassen die Erklärungen der radikalfundamentalistischen Gruppen Hamas und Jihad, die für die Anschläge verantwortlich sind, keinen Zweifel zu. Ihnen ist an einer friedlichen Lösung, an irgendeiner Art von Verständigung nichts gelegen, unabhängig davon, wie sich die israelische Regierung im Einzelnen verhalten mag. Ihr Ziel ist unmissverständlich: die Vernichtung des Staates Israel und die Schaffung eines islamistischen Gottesstaates.

Auch die Tatsache, dass die islamistischen Organisationen längst keine marginale Erscheinung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft mehr sind, ist für die linken Antiimperialisten kein Thema. Sie ignorieren, dass die Fundamentalisten den Verlauf des so genannten nationalen Befreiungskampfes bestimmen.

Seine Dynamik gewinnt dieser Kampf aus der nach innen wie nach außen gerichteten Aggression, aus der Abwehr der vermeintlichen jüdischen Gefahr und aus der permanenten Selbstreinigung. Zum Selbstmordattentat gehört die Liquidierung der »Verräter«, die Vernichtung des Unreinen im eigenen Volkskörper. Die Behauptung, die eigene Gemeinschaft sei in ihrer Existenz bedroht, rechtfertigt das bedingungslose Opfer des eigenen Lebens und den Einsatz aller Mittel. Erst wenn die Gottlosen und die Juden vernichtet sind, kommt der neue Staat.

Hier liegt das Missverständnis der neuen Antiimperialisten. Die islamistischen Kämpfer von Tora Bora bis Gaza fühlen sich von den kommunistischen Gücksversprechen ebenso betrogen wie von den bürgerlichen Postulaten. Die Entrechteten und Elenden aus der Dritten Welt spucken auch auf die Linke - und sie hat es noch nicht einmal registriert. Stattdessen wollen sie für ein religiöses Regime ihr Leben opfern, unter dem Nagellack als Sünde gilt und vorehelicher Geschlechtsverkehr direkt in die Hölle führt.

Francis Fukuyama hätte sich das vermutlich nicht träumen lassen, als er nach dem Scheitern des Realsozialismus gleich das Ende der Geschichte postulierte. Heute empfiehlt sich die Gemeinschaft der Gläubigen als Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft. Nach dem Ende der Geschichte kommt die Religion.

Die materiellen Voraussetzungen für diese ideologische Formierung wurden in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen. Die kapitalistische Modernisierung löste, ähnlich wie im 19. Jahrhundert in Europa, in diesem Teil der Welt die traditionellen Bindungen auf und setzte die Subjekte frei. Doch die Möglichkeit der freien Selbstentfaltung, die Aussichten auf Emanzipation von Blut und Scholle, wurde gleichzeitig dementiert, da sie nur die wenigsten genießen können. Für die Mehrheit bedeutete diese Modernisierung eine doppelte Freisetzung im schlechten Sinne: von ihren sozialen Bindungen und der Sicherheit, von der Familie und den Traditionen - und von ihrer bescheidenen Subsistenz- und Versorgungsbasis. Was übrig blieb, war das Heer der Überflüssigen.

Weite Teile der islamischen Einflusssphäre gehören heute zur vierten Welt. In Fällen wie Afghanistan oder Somalia helfen selbst diese Kategorien nicht mehr weiter. Für die überwiegende Mehrheit der Menschen außerhalb der Metropolen hat sich die Ankündigung einer nachholenden Entwicklung, das Versprechen eines globalen pursuit of happiness, als schlichte Lüge erwiesen. In diesem Sinne entwickelt sich der Kapitalismus ähnlich wie die Klimakatastrophe. Die Insel der Glücklichen wird immer kleiner, während der Rest in einem Meer der Barbarei versinkt. Und selbst für jene, die noch im Trockenen sitzen, wird es immer ungemütlicher.

Diesen Prozess gibt es, seitdem es den Kapitalismus gibt. Entscheidend jedoch ist, wie die davon Betroffenen die Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen reflektieren. Der militante Islamismus kritisiert eine Seite dieses Prozesses, die kulturelle Entfremdung. Für ihn ist die Aufhebung der schlechten Verhältnisse vor allem ein psychologisches Problem. Glauben alle an die wahre Lehre, stellt sich das gerechte Leben von alleine ein. Und wenn die Realität nicht mit den Erwartungen übereinstimmt - umso schlimmer für die Wirklichkeit.

In diesem Sinne ist die ideologische Interpretation der ökonomischen Entwicklung handlungsanleitend. Der materielle Prozess wird vor allem als Zersetzung der traditionellen und kulturellen Ordnung wahrgenommen. Das Gift dringt bis in die Kapillaren der Gesellschaft. Demgegenüber wird ein Bild einer ursprünglichen Gemeinschaft propagiert, in der es keine Widersprüche gibt. Vor Gott sind schließlich alle gleich.

Gegen die Dekadenz und die moralische Verrottung steht das chiliastische Versprechen dieser neuen Ordnung. Dazwischen liegt der Kampf. Er ist die Umkehrung des alten kommunistischen Traumes, die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden und an ihrer Stelle eine freie Assoziation der selbstbestimmten Individuen zu errichten, die sich nicht mehr über das Kapital vermittelt. Demgegenüber steht die religiöse Utopie einer Gemeinschaft, in der die Beziehung zwischen den Mitgliedern von Gott hergestellt wird. In diesem Sinne ist Bin Laden ein auf den Kopf gestellter Lenin, ein Che Guevara der verkehrten Welt.

Dieser Gegenentwurf ist nicht auf das 21. Jahrhundert beschränkt. Der Hass auf die Moderne und der Versuch, sie durch ein archaiisches Gleichheitsideal zu ersetzen, sind so alt wie die Moderne selbst. Im 19. Jahrhundert bezogen sich die reaktionären Versuche, die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden, auf vormoderne Kategorien wie Blut, Abstammung und Rasse. Im 20. Jahrhundert versuchten zuerst die italienischen Faschisten, der Moderne mithilfe dieses Programms Herr zu werden. Im 21. Jahrhundert tritt nun die Religion an diese Stelle.

Diese Antiaufklärung lässt sich auch nicht auf die Islamisten reduzieren. Bei den hinduistischen Fanatikern ist sie vermutlich nicht weniger Programm wie bei den christlichen Fundamentalisten in den USA, die im Namen Gottes die darwinistische Evolutionslehre überwinden wollen.

Der Unterschied ist nur, dass der politische Islam potenziell in der Lage ist, sein Programm auch umzusetzen. Er verfügt über die globale Vernetzung, über finanzielle Ressourcen und militärische Kapazitäten. Er ist die neue Internationale, der die Sharia erkämpfen will.

Eine Linke, die diese Entwicklung nicht einmal reflektiert, hat mit dem Gedanken der Emanzipation nichts mehr gemein. Sie hat deren Voraussetzungen längst zugunsten eines reaktionären Antiimperialismus aufgegeben.