Die Filme von Chantal Akermann

Orte gibt's überall

Die belgische Filmautorin Chantal Akerman interessiert der subtile Zusammenhang von Körper und Raum.

Wer Chantal Akerman in ihrem dokumentarischen Roadmovie »D'Est« von Deutschland bis nach Moskau folgt, wird die Bilder des Unterwegsseins so schnell nicht vergessen. Was hier mit Eindrücken des sich wandelnden Osteuropa im Jahre 1993 beginnt, mit Aufnahmen von Bahnhöfen, Porträts von Menschen in ihren Wohnzimmern oder bei der Kartoffelernte, entwickelt sich zum elegischen Filmgedicht. Immer entschiedener verlässt die Regisseurin sich dabei auf langsame, ruhig gleitende Kamerafahrten, vorbei an Scharen von meist stummen Zeugen im russischen Winter, Menschen, wie sie einzeln oder in kleinen Gruppen, vermummt, schweigend, über die Felder gehen oder am Straßenrand entlang, wie sie an Haltestellen warten, nebeneinander gedrängt oder lose hintereinander gestaffelt, geduldig, diszipliniert, ihren Atem in die kalte Luft hauchend. Auch wenn einer von ihnen, neugierig fragend oder sich beschwerend, ein Wort in Richtung Kamera spricht, geht der Film nicht näher darauf ein; unbeeindruckt fährt die Kamera weiter, nahezu stoisch.

Chantal Akerman, belgische Autorenfilmerin, Jahrgang 1950, sucht in ihren Filmen selten den dramatischen Schlagabtausch. Stattdessen erkundet sie immer wieder neue Raummuster für ihre Erzählungen, seien es Reisestrecken oder eine Stadt bei Nacht, eine einzelne Küche oder eine Musiksequenz. Selbst in ihren Spielfilmen herrschen räumliche Konstruktionen und Fluchtlinien über das Schicksal der Figuren.

»Nuit et jour« (1991) erzählt von einer klassischen Dreiecksbeziehung. Julie liebt zwei Taxichauffeure. Mit Jack, dem Fahrer der Nachtschicht, lebt sie zusammen und verbringt den Tag mit ihm zu Hause, allein, meistens im Bett, wo die beiden sich lieben. Später lernt sie Joseph kennen, Jacks Kollegen von der Tagesschicht. Fortan treffen auch sie sich, hinter Jacks Rücken, jede Nacht außer sonntags, wenn Jack frei hat. Keiner der drei will schlafen; wer einschläft, riskiert, das Glück aus der Hand zu geben und zu verlieren. Aber ebenso ist es die Struktur der örtlichen Gewohnheiten, die den Paaren die Zukunft nimmt. Julie und Jack leben in ihrem Apartment wie »unter einer Käseglocke«, ohne Telefon und ohne einen Tisch für Besucher. Wenn Julie eines hellen Morgens aufbricht und beide Männer verlässt, ist dies ein seltener Moment in Akermans Filmen, der Blick ins Offene, der alsbald wieder zurückfällt in Dämmerung oder Innenräume.

Ein Psychologe könnte Akermans nachhaltige Beschäftigung mit Treppenhäusern, dunklen und ungemütlichen Räumen als autobiografische Reminiszenz deuten, mussten doch ihre aus Polen emigrierten jüdischen Eltern sich einst in einer Brüsseler Wohnung vor den Nazis verstecken. Doch zur filmisch reflektierten Klaustrophobie mischt sich stets die burleske Leichtigkeit oder der schwarze Humor, wie bereits in Akermans erstem, chaplinesken Kurzfilm »Saute ma ville« (1968), wo eine heitere junge Frau in ihrer Küche singt und dabei Vorkehrungen trifft, sich mit dem Gasherd in die Luft zu sprengen. Zwar arbeitet die Regisseurin durch ihren wechselnden Bezug auf verschiedene Filmgenres wie auch mit ihren Wanderungen zwischen Osteuropa und Amerika gegen solche psychologischen Zuschreibungen an; dennoch gelten Heimatsuche und Rastlosigkeit als die beliebtesten Schlüssel für ihr Werk.

Nachdem Akerman sich als Filmstudentin in Brüssel nicht ernst genommen fühlte und in Paris an den Klischees eines Bohèmelebens laborierte, siedelte sie, vom verspäteten Erfolg ihres ersten Kurzfilms beflügelt, 1972 für sieben Monate nach New York über. Hier waren es die Tagebuchfilme von Jonas Mekas sowie die Arbeiten von Andy Warhol und Michael Snow, die Akermans Interesse an den subtilen Zusammenhängen zwischen Raum und Körper weiter anregten. In ihren Filmen »La chambre« und »Hotel Monterey« (beide 1972) tasten Schwenks oder Vertikalfahrten die (Fast-)Stilleben einzelner Schlafzimmer ab und demonstrieren damit die Gleichrangigkeit im räumlichen Panorama. Doch die Einflüsse der New Yorker Kino-Avantgarde sind nicht nur in ihren formalen Arbeiten wiederzufinden. Fortan prägten sie den überwiegenden Teil von Akermans Werk.

Ihren internationalen Durchbruch erzielte die 25jährige mit »Jeanne Dielman, 23 Quais du commerce 1080 Bruxelles« (1975), der in 200 Minuten drei Tage einer jungen Witwe vorführt. Sie lebt allein mit ihrem Sohn in der Brüsseler Wohnung und empfängt dort täglich einen anderen Freier, bis sie einen von ihnen ermordet. Hier ist es die leere Routine der vom Haushalt vorgegeben Handgriffe, die einen Koller verursacht. »Einen Liebesfilm an meine Mutter«, so umschrieb die Regisseurin selbst ihren Film, der inzwischen als ein Meilenstein des feministischen Kinos gilt. Diesem Spielfilm folgte ein Jahr später ein langer Dokumentarfilm, in dem erneut das Verhältnis zur Mutter eine Rolle spielt, diesmal als sphärische Spannung zwischen Bild und Ton: »Letters From Home« (1976) konfrontiert die schlicht vorgetragenen Briefe der Mutter mit mechanisch gefilmten Ansichten von New York. Die leidenschaftslose Aufmerksamkeit für die Anonymität der Großstadt korrespondiert mit den zahlreichen, kaum variierten, mütterlichen Fürsorgebeteuerungen und Verständigungsversuchen.

Das etwa 30 Filme umfassende Werk Akermans ist extrem von ihrer Biografie geprägt. Nicht selten tritt sie selbst vor der Kamera auf, als Stubenhockerin oder als Neurotikerin einer Wohngemeinschaft, aber auch forschend, vermittelnd als Interviewerin. Das verweist auf ihr wechselndes Interesse an Privatsphären einerseits und an öffentlichen Ereignissen andererseits. Nachdem sie ihre Erzählungen der achtziger Jahre, »Toute une Nuit« (1984) über liebeskranke Nachtschwärmer in Brüssel oder die Erinnerungen und Humoresken von jüdisch-polnischen Emigranten in »Histoire D'Amerique« (1989), mit Vorliebe bei Nacht inszenierte, dringen in ihre Filme der jüngeren Zeit auffällig viel Tageslicht und die Außenwelt hinein, in die Reisedokumentationen oder auch in ihren neuesten Spielfilm »La Captive« (2000), nach einer Geschichte von Marcel Proust. Dessen Protagonist hegt allerdings Zweifel daran, dass seine Geliebte, wenn sie beim Küssen die Augen schließt, auch weiterhin an ihn denkt. Gewissermaßen entspricht dies dem Zwiespalt von Akermans Filmen. Ihre Räume des Privaten, Imaginären bestehen gleichrangig neben der äußeren Geschichte. Akermann, die aus solcher Spannung ihren Stil entwickelt, ist eine Regisseurin der von Wanderungsbewegungen geprägten Gesellschaft.

Bis zum 25. Januar zeigt das Berliner Arsenal-Kino eine Akerman-Retrospektive