Das »Christmas Album«

Siehst du die Lichter?

Zu Weihnachten verbindet sich die Angst vor seelischen Schmerzen mit dem Bedürfnis nach Wärme. Um diesen Widerspruch zu ertragen, wurde das »Christmas Album« erfunden.

Es soll da draußen ja immer noch Leute geben, die ein Problem mit Weihnachten haben. Reine Konsumveranstaltung, murmeln die einen, wenn sie durch die mit Leuchtsternen geschmückten Fußgängerzonen der Innenstädte schlurfen. Andere haben keine Lust, zu ihren Eltern zu fahren. Muss nicht sein, sagen sie sich und beratschlagen in ihren WG-Küchen: Wir feiern lieber hier, machen ein Essen und so, wir brauchen uns ja auch nichts zu schenken, dafür bringt jeder eine Flasche guten Wein mit, okay? Noch andere geben extra viel Geld aus, um groß angelegte Reisen zu unternehmen, mit TUI in den Süden oder mit Ecstasy und/oder LSD in das Innere ihrer weihnachtsgebeutelten Seelen. Hauptsache warm: Siehst du die Lichter?

All das sind verständliche Reaktionen. Wenn es eine Feier gibt, zu der sich von früher Kindheit an die ganzen kleinen menschlichen Igel zusammengedrängt haben, auf dass es nicht mehr ganz so kalt sein dürfe in der fiesen, entfremdeten Welt, dann zu Weihnachten. Aber je näher sie sich zusammendrängelten, desto mehr pieksten und stachen sie sich. Aua! Immer musst du so blöde Bemerkungen machen, jetzt setz dich schon ans Klavier! Heute wollen wir uns einmal vertragen. Und die Erinnerung an diese Schmerzen hat sich genauso in die eigene Psyche eingefressen wie die an die Wärme und das glitzernde Licht, die Geschenke und die Überraschung, das Geborgensein und die Schneeflocken vor dem Wohnzimmerfenster - beides ist Teil ein und desselben Komplexes.

So ist die Lage. Und wie in allen Fällen, in denen es unlösbare Widersprüche auszuhalten gilt - Widersprüche, die eigentlich sogar als etwas Schönes codiert sind, auch wenn sich die reine Freude nie wirklich einstellt -, spendet auch hier die Popmusik Trost.

Phil Spector's Christmas Album (1963)

Das Beste gleich zuerst. »Phil Spector's Christmas Album« ist die unerreichbare Vorlage aller Weihnachtsalben. Spectors Idee eines perfekten Popsongs war die Teenage-Sinfonie. Drei-Minuten-Popsongs, von einer klanglichen Tiefe, wie es sie vorher in der Popmusik nicht gegeben hatte. 1963 setzte er sich hin und schrieb für jede der von ihm produzierten Girlgroup Weihnachtslieder. »Christmas is so American, it is therefore time to take the great Christmas music and give it the sound of American music today«, schreibt er in den Liner Notes und umreißt damit das Programm, nach dem bis heute alle Weihnachtsplatten funktionieren.

Der Sound von 1963 war Spectors Wall Of Sound: Glöckchen klingeln, ein ganzes Orchester beginnt zu spielen, ein Schlagzeug gibt den Takt vor, und Darlene Love hebt an: »Christmas! Stars coming down! Christmas! I'm watching them fall! Christmas! Lots of people around! Christmas! Baby please come home!« Ein Stück, das einen vor Überwältigung zittern lässt.

Wie alle Weihnachtsplatten-Produzenten bindet Spector das Weihnachtsthema in kleine Dramen des Alltags ein. Etwa wenn die Ronettes über das Erstaunen singen, das ein Mädchen ergreift, wenn es nach dem Zubettgehen auf der Treppe steht, um zu schauen, wo der Weihnachtsmann bleibt, und feststellt: »I Saw Mommy Kissin' Santa Claus«. So brechen Welten zusammen, und neue Gebiete tun sich auf. Auf solche Ideen kann nur ein Mann Mitte Zwanzig kommen, der versucht sich in das Gefühlsleben eines 13jährigen Mädchens zu versetzen, um so Richard Wagner zu werden. Ganz große Kunst.

V. A.: »Soul Christmas« (1968)

Eigentlich ist das genuine Medium für die Weihnachtsplatte die Single. Alben sind zu lang, zu viel, zu heavy. Aber mit einem gewissen zeitlichen Abstand bietet es sich an, verschiedene Singles auf einer Langspielplatte zusammenzufassen. Stellvertretend für all die großartigen Soul-Weihnachtsplatten soll es hier um »Soul Christmas« gehen, eine Platte aus dem Hause Atlantic Records. In »Back Door Santa« stellt sich Clarence Carter als Hintertürweihnachtsmann vor, der im frühen Morgen seine Runden dreht, um die little girls happy zu machen, und wenn es Ärger gibt, verschwindet er durch den Schornstein.

Joe Tex erzählt dagegen in »I'll Make Everyday Christmas (For My Woman)« seine Weihnachtsgeschichte. Schon als kleiner Junge habe er sich immer gewünscht, einmal eine Frau zu finden, die für ihn das sei, was seine Mutter für seinen Vater war. Für diese Frau werde er, so er sie denn einmal finden würde, jeden Tag Weihnachten sein lassen.

Also auch hier: Weihnachten als Motor des Guten und Schönen. Zwei der Großkategorien der abendländischen Philosophie, die man vielleicht nur dann richtig zu schätzen lernt, wenn man sich die beiden Klassiker einer jeden Weihnachtsplatte anhört, die sich auch auf »Soul Christmas« finden: Otis Redding singt »White Christmas« und Booker T. & the MGs spielen eine wunderschön abstrakte Version von »Jingle Bells«.

Salsoul Orchestra: »Christmas Jollies II« (1981)

Nicht alles ist Gold, was glänzt. Erst recht nicht an Weihnachten und auch auf den dazugehörigen Schallplatten nicht. Das Cover weiß zwar durch ein Foto des üblichen Salsoul-Covergirls zu überzeugen, das diesmal als Weihnachtsfrau ausstaffiert ist. Doch die Platte selbst ist grauenvoll. Eigentlich kann man das Salsoul Orchestra ja gar nicht hoch genug in den Himmel heben. Wunderschöne Discoplatten hat das Orchestra herausgebracht, immer angetrieben von den wunderbaren Streicherarrangements und den, nun ja, geschmeidigen Beats.

Doch auf der Weihnachtsplatte gerinnt diese Kombination zum schlichten Grauen. Man erträgt es kaum. Ein Sound, wie er weichgespülter kaum vorstellbar ist. Es ploppen die Beats, es klirren die Streicher. Hier gehen die Lichter aus. Diese Platte ist im Grunde genommen durch nichts zu rechtfertigen, außer vielleicht durch den Verweis darauf, dass zu Weihnachten eben alles möglich ist, aber kein Discofest. Eine Neujahrsplatte, das wär's gewesen.

V. A.: »Christmas Rap« (1987)

Auch im HipHop sind die Weihnachtsplatten eine lieb gewordene Tradition. Jeder bessere Plattenladen führt etwa noch Restexemplare der sagenumworbenen »Christmas On Death Row«-Compilation.

Hier soll es jedoch um eine etwas weniger militante Zusammenstellung gehen. »Christmas Rap« ist eine Platte, die schon durch ihr Cover überzeugt: zwei Adidas-Turnschuhe, die mit Lametta geschmückt sind. Es sind die berühmten Schuhe von Run DMC, den Königen dieser Phase des HipHop, die die Platte auch prompt eröffnen, mit »Christmas in Hollis«, einem Stück, das über einem »Back Door Santa«-Sample erzählt, wie es an Weihnachten so zugeht in Queens, New York. Mutter macht das Essen, und draußen plinkern weiße Schneeflocken in den Vorgarten.

Ganz wie all die anderen großen Weihnachtsschallplatten verbindet »Christmas Rap« das Weihnachtsthema mit den Anliegen der Popmusik, in diesem Fall HipHop. Da gibt es ein Stück über »Ghetto Santa«, und Derek B lässt in einem Track mit dem begnadeten Titel »Chillin With Santa« die folgenden Zeilen fallen: »Listen up everybody it's christmas time / Time for me to recite a brand new rhyme / About one of the best times of the year / Everybody get busy 'cause christmas is here / The time of the year when Jesus was born / December 25th, he's a capricorn / Just like my DJ who's the best.« Weil er ebenfalls magische Fähigkeiten besitzt. So kriegt man Weihnachten, das Den-Dicken-Max-Machen und das Geschichtenerzählen unter einen Kangolhut.

Destiny's Child: »8 Days Of Christmas« (2001)

Weihnachten ist ein Fest für die ganze Familie. Von daher gibt es im zeitgenössischen R'n'B kaum eine Gruppe, die so sehr für eine Weihnachtsplatte prädestiniert wäre wie Destiny's Child. Der Vater ist der Manager der Gruppe, eine Tochter steht im Mittelpunkt, die andere Tochter tanzt ab und zu im Background, die Stieftochter singt in einer Nebenrolle, die Mutter kümmert sich ums Styling. Ein perfekter Familienbetrieb, der hochspezialisierte Produkte für den globalen Entertainment-Markt liefert. Und: Gibt es neben dem berühmten Jemanden-der-nichts-ahnt-in-den-Swimmingpool-Schubsen ein weltweit wirksameres Bild für ungetrübtes Glück als lachend dicke Geschenkpakete mit großen Schleifen in die Höhe zu halten?

So hört sich die Platte auch an: perfekt und vielleicht ein wenig zu kalkuliert - aber wer wollte Überraschungen ausgerechnet auf einer Weihnachtsplatte erwarten? Fast alle Stücke sind Eigenkompositionen, die davon handeln, dass man an Weihnachten etwas Liebe über die Familie und den Rest der Welt versprühen sollte. In einem groß angelegten Medley und in einer - zugegeben - wunderschönen Version von »White Christmas« zeigen die drei Sängerinnen, dass sie auch das klassische Material beherrschen.

Dank an Stefan und Tilman