Sherwood Andersons »Winesburg, Ohio«

So alt wie die Welt

Sherwood Andersons Roman »Winesburg, Ohio« erschien 1919, ist aber noch immer taufrisch.

Eine Reihe Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios« nannte Sherwood Anderson sein 1919 erstmals erschienenes Romanexperiment »Winesburg, Ohio« im Untertitel. Obwohl Anderson Autodidakt war, kannte er sich gut genug aus in der Gegenwartsliteratur seiner Zeit, um zu wissen, dass er hier nicht nur eine »Reihe Erzählungen«, sondern eben einen neuen Typ von Roman geschaffen hatte, und er war auch selbstbewusst genug, diese formale Innovation für sich zu beanspruchen: »Die Geschichten gehörten zusammen. Ich spürte, dass sie, zusammengenommen, so etwas wie ein Roman waren, eine ganze Geschichte. Was gebraucht wird, ist eine neue Lockerheit, und mit 'Winesburg' hatte ich dieser Lockerheit eine Form gegeben.«

Es gab natürlich auch hier Vorläufer, unter anderem und vor allem Gertrude Steins Porträt-Triptychon »Drei Leben«. Das muss Anderson beeindruckt haben, und hier scheint er bereits den »neuen Ton« gefunden zu haben, den er noch vor der Abfassung der ersten Winesburg-Geschichten in einem poetologischen Aufsatz postulierte und mit dem er sich vor allem absetzen wollte von der Konfektionsware eines Henry James, Sinclair Lewis und O.Henry: »Im Metier des Schreibens ist der so genannte Neue Ton so alt wie die Welt. Schlicht formuliert, ist er der Schrei nach einer frischen Injektion von Wahrheit und Aufrichtigkeit in das Handwerk; er ist ein Aufruf - weg von den Maßstäben, die mit Profit arbeitende Zeitschriften- und Buchverleger in Europa und Amerika aufgestellt haben, hin zu den älteren, frischeren Maßstäben des eigentlichen Handwerks.«

Und »Winesburg, Ohio«, diese von Anderson dann tatsächlich im Selbstversuch vorgenommene »Injektion von Wahrheit und Aufrichtigkeit« verbunden mit jener »Lockerheit« der Romankonstruktion, wurde so wirkungsmächtig für die erzählende Prosa wie nur wenige andere Bücher im 20. Jahrhundert. Hemingway, Faulkner, Steinbeck, Thomas Wolfe, Henry Miller, J.D. Salinger, der später immer wieder zum Kronzeugen literarischer Wahrhaftigkeit aufgerufene Raymond Carver natürlich, auch Charles Bukowski und in dessen Nachfolge Keith Abbott, und nicht zuletzt Günter Ohnemus und Ingo Schulze hierzulande ließen sich von seiner poetischen Suggestivität beeindrucken und beeinflussen. Anderson entwirft in 22 sich teilweise kreuzenden und miteinander verknüpften Short-Story-Biogrammen das Bild einer fiktiven Kleinstadt, die jedoch zumindest in den Umrissen von seiner eigenen Heimatstadt Clyde, Ohio, abgepaust war.

Da ist zum Beispiel Reverend Curtis Hartman. Durch ein kleines Loch im Fenster des Glockenturms, in dem er seine Predigten vorbereitet, beobachtet er zufällig die Lehrerin Kate Swift, wie sie lesend im Bett liegt, mit nackten Schultern. Der gottesfürchtige Mann hadert mit sich, bittet seinen Gott um Beistand, aber es nützt alles nichts. Von Selbstvorwürfen zerrissen, aber erotisch doch zu sehr affiziert, nutzt er jede Gelegenheit, den schönen Hals und die Schultern der Kate Swift zu betrachten. Bis in einer Januarnacht - der Geistliche hat sich aus dem Haus gestohlen, ist durch die Kälte gestapft und wartet nun in einer beinahe wahnhaft gesteigerten Sehnsucht auf das Eintreffen seiner aus der Ferne Geliebten - das Blatt sich wendet: »In dem Zimmer gegenüber wurde eine Lampe angezündet, und der Wartende starrte auf das leere Bett. Und dann warf sich vor seinen Augen eine nackte Frau auf dies Bett. Mit dem Gesicht nach unten lag sie da, weinte und schlug mit den Fäusten auf die Kissen. Schließlich, nach einem endgültigen Aufschluchzen, richtete sie sich halb auf; und in Gegenwart des Mannes, der auf ihren Anblick gewartet und sich seinen Phantasien hingegeben hatte, begann das sündige Weib zu beten. In dem Licht der Lampe glich ihre schlanke, kräftige Figur der des Knaben, der auf dem bleigefassten Fenster vor Christus stand.«

Eine Epiphanie. Nur so jedenfalls kann der Reverend diese Erscheinung deuten. Geläutert schlägt er die Scheibe ein, um sie hernach völlig zu ersetzen - also nicht mehr wie bisher durch das Loch stieren zu müssen.

Der Leser indessen bekommt nach dieser metaphysischen Lesart noch eine ganz pragmatische angeboten, schon in der nächsten Geschichte. An eben jenem Tag nämlich hat sich Kate Swift aufgemacht, um ihren einstigen Lieblingsschüler George Willard aufzusuchen, den angehenden Poeten und jetzigen Reporter der kleinen Stadtzeitung, der auch in den anderen Geschichten immer wieder mal auftaucht und die Protagonisten zum Erzählen bzw. Handeln bringt. Die Lehrerin, die von seinem schriftstellerischen Talent überzeugt ist, redet ihm ins Gewissen, gibt ihm Ratschläge, von denen sie glaubt, dass er sie doch noch nicht recht versteht, und redet sich angesichts der Zwecklosigkeit ihres Tuns so in Rage, dass ihre Leidenschaft »zu etwas Körperlichem« wird. Ein erotischer Affekt also auch hier, der von George entsprechend gedeutet wird. Er nimmt sie in die Arme, und sie lässt sich das für einen Moment auch gefallen, löst sich dann aber verwirrt und rennt nach Hause. Anschließend geschieht das, was Reverend Hartman glauben lässt, er sei seinem Gott begegnet.

Was Anderson mit struktureller »Lockerheit« meint, dürfte anhand dieser beiden Erzählungen deutlich geworden sein. Und hier zeigt sich auch exemplarisch das große Thema des Buches: die Unwägbarkeiten des Zwischenmenschlichen, die Seelenlagen und Gemütszustände, die Passionen, Obsessionen, fixen Ideen, also all das, was sich hinter den Worten und Handlungen der Menschen verbirgt. So handfest und wirklichkeitsgesättigt die Geschichten bisweilen daherkommen, ihr Gravitationszentrum ist doch immer, im Wortsinne, das Metaphysische.

So erklärt sich denn auch die einleitende Geschichte »Das Buch 'über das Groteske'«. Ein Buch im Buch ist fast immer eine verschlüsselte Poetik des Autors, Sherwood Anderson macht hier keine Ausnahme. Ein alter, kränklicher Schriftsteller denkt sich in einer Art von kreativem Dämmerzustand Figuren aus, die ihm aber immer grotesk geraten, und beschreibt sie dann in einem Buch mit dem Titel »Über das Groteske«. Die darauf folgenden Geschichten könnten der Inhalt dieses Buches sein, in dem Fall hätte die einleitende Erzählung eine Art Rahmenfunktion, davon ist aber explizit nirgends die Rede.

In jedem Fall stehen sie in einem allegorischen Zusammenhang, denn alle später auftretenden Protagonisten sind in der Tat grotesk nach der Definition des Schriftstellers: »Anfangs, als die Welt noch jung war, gab es eine große Menge Ideen, aber nirgends so etwas wie eine Wahrheit. Die Menschen machten sich die Wahrheiten selber, und jede Wahrheit war zusammengesetzt aus einer Anzahl unklarer Ideen. Auf die Weise kam es überall in der Welt zu Wahrheiten, und sie waren allesamt wunderschöne Wahrheiten (...) Es waren die Wahrheiten, die die Leute zu grotesken Figuren machten. Der alte Mann hatte eine ziemlich endgültige Theorie über diesen Punkt. Nach seiner Erfahrung wurde jemand mit dem Moment, wo er sich eine der Wahrheiten aneignete und sie seine Wahrheit nannte und sein Leben mit ihr zu führen versuchte, eine groteske Figur, und aus der Wahrheit, die er in den Armen hielt, wurde etwas Unwahres.«

Ist das nicht eine wunderhübsche poetische Auskleidung des alten geschichtsphilosophischen Denkmodells vom Anbruch der Moderne, wie es der Idealismus formulierte? Demzufolge zerstört die Ratio, der analytische Verstand, die mythische All-Einheit, indem er sie in ihre Bestandteile zerlegt und somit vereinzelt. Und jede neuerliche Zergliederung liefert zwar rationale Erkenntnisse, »Wahrheiten«, wird aber auch insofern immer »unwahrer«, als sie sich sukzessive von der ursprünglichen Ganzheit entfernt. Das ist gewissermaßen das Los des modernen Menschen. Er lebt in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, seine Existenz ist diversifiziert, disparat, diskontinuierlich und damit zwangsläufig verzerrt - eben grotesk, weil er nicht mehr aller Wahrheiten gleichzeitig, sondern nur mehr einiger weniger teilhaftig werden kann.

Angesichts dieses Befunds bekommt Andersons Diktum, wonach »der so genannte Neue Ton so alt wie die Welt« sei, eine weitergehende poetologische Relevanz. Denn, das zeigt nicht zuletzt das letzte längere Zitat, hat seine Diktion tatsächlich etwas Archaisches, Ursprüngliches und erinnert wohl nicht zufällig an die Tonfälle der Bibel oder alter Mythentexte. Mit anderen Worten, in seiner Arbeit stellt der Dichter die alte mythische Einheit wieder her, indem er groteske Figuren und die in ihnen sich manifestierenden unwahren Einzelwahrheiten sammelt und sie wieder zu einem Ganzen zusammenfügt.

Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio. Eine Reihe Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios. Aus dem Amerikanischen von Hans Erich Nossack, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 253 S., DM 29,90, Euro 15,28