Migrationspolitik

Ein zweites Rechtssystem

Nach dem 11. September wurden alle Hoffnungen auf ein liberaleres Migrationsregime in den USA enttäuscht.

Der Sommer hatte nicht schlecht begonnen. Im Mai verloren die rechten Republikaner ihre Mehrheit im US-Senat. Im Juni bekräftigte der Oberste Gerichtshof, dass die Grundrechte der US-Verfassung auch für »papierlose« Immigranten gelten. Im Juli empfahl eine Regierungskommission unter der Leitung von Außenminister Colin Powell sowie Innen- und Justizminister John Ashcroft, mindestens eine Million Illegale zu »regularisieren«. Die Einwanderungspolizei hatte ihre Razzien praktisch eingestellt. Mehrere US-Bundesstaaten begannen damit, Führerscheine ausdrücklich auch an »Papierlose« auszustellen, um die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen. Die nüchterne Begründung: Die Betroffenen fahren ja ohnehin Auto und bleiben wohl auf Dauer in den USA.

Am 7. September fanden sich der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes und der Sprecher der nationalen Industrie- und Handelskammer als Sachverständige vor einem Kongressausschuss ein. Beide verlangten, die schätzungsweise sechs bis neun Millionen »Undocumented« im Land zu legalisieren. Sollte der irrationale Kapitalismus wenn schon nicht zu einer humanen, so zumindest zu einer rationalen Einwanderungspolitik in der Lage sein?

Doch dann kam der 11. September, und das einstürzende World Trade Center begrub unter sich nicht nur gut situierte Banker und »papierlose« Immigranten, sondern auch die Hoffnung auf ein liberaleres Migrationsregime. Seither vergeht kaum eine Woche ohne neue Repressalien gegen Einwanderer: zahlreiche Festnahmen, Verhöre, Rasterfahndung, unbefristete Internierungen und - möglicherweise - geheime Militärtribunale (Jungle World, 46 und 51/01). Mit einer Reihe von schnell durchgepaukten Gesetzen und Dekreten habe die Bush-Regierung innerhalb weniger Wochen »ein paralleles Rechtssystem für Nicht-US-Bürger geschaffen«, stellte die New York Times beunruhigt fest, in dem die üblichen rechtsstaatlichen Garantien nicht mehr gelten.

Besonders krass geht man gegen illegalisierte Immigranten vor. So können »Papierlose« nun auch wegen kleiner Gesetzesverstöße monatelang in Abschiebehaft gehalten werden. In Deutschland ist diese Praxis schon seit langem gang und gäbe, in den USA gilt sie immerhin noch als Skandal. Bis die angekündigten Bürgerrechtsklagen das oberste Gericht erreichen, werden aber wohl Jahre vergehen.

Die schlagartig verschärfte Einwanderungspolitik hat allenfalls am Rande mit Vorsichtsmaßnahmen gegen weitere Terroranschläge zu tun. Die Bundespolizei FBI räumt ein, dass von den 1 200 Immigranten, die nach dem 11. September festgenommen wurden, höchstens ein Dutzend »möglicherweise« Kontakte zum Islamisten-Netzwerk al-Qaida gehabt habe.

Weil die Gelegenheit günstig ist, lässt Ashcroft gleich noch ganz andere Dinge erledigen. Kurz vor Weihnachten gab der Minister bekannt, die Einwanderungspolizei INS habe eines der größten Strafverfahren ihrer Geschichte eingeleitet - nicht etwa gegen potenzielle Flugzeugentführer, sondern gegen 32 Angestellte der Busfirma Golden State Transportation aus Los Angeles, die in ihren Linienbussen gegen einen relativ geringen Aufpreis mehrere Tausend illegale Grenzgänger aus Mexiko ins Landesinnere befördert haben sollen.

Der rechte Rollback hatte schon zuvor begonnen. Bereits im Juli machten die Konservativen gegen den Legalisierungsplan von Powell und Ashcroft mobil. Man dürfe »Rechtsbrecher«, also Leute, die ohne Papiere die Grenze überquert oder ihre Touristenvisa eigenmächtig verlängert haben, nicht belohnen, schimpfte der republikanische Senator Phil Gramm. Allenfalls befristete Gastarbeiter-Kontingente für die Landwirtschaft und die Gastronomie wollten die Hardliner akzeptieren. Angesichts der beginnenden Rezession ließ die Nachfrage nach billigen und willigen Arbeitskräften ohnehin nach. Die Regierung ruderte zurück. Als der mexikanische Präsident Vicente Fox beim Staatsbesuch Anfang September seinen Kollegen »Jorge« Bush aufforderte, noch vor Jahresende ein Legalisierungsgesetz zu unterzeichnen, wiegelte dieser ab. Es gebe noch Beratungsbedarf, hieß es.

Dagegen spielten die Bürgerrechtsorganisationen auf Zeit. Die Administration unter George W. Bush, so hoffte man, werde es sich nicht leisten können, den wachsenden Wähleranteil von Latinos zu brüskieren. In der antirassistischen Bewegung drehte sich die Debatte bald nur noch darum, ob man eher eine Legalisierung bereits eingewanderter »Papierloser« fordern solle (was vor allem Latinos zugute käme) oder nicht auch eine Ausweitung des Familiennachzugs (wovon vor allem asiatische Einwanderer profitieren würden). Diese Debatten haben sich erübrigt. Denn eine Legalisierung, darin sind sich mittlerweile alle einig, dürfte nun um Jahre verschoben sein.

Schon kleine Schikanen zeigen, wie sich das politische Klima verändert hat. Der Kongress verabschiedete ein Gesetz, nach dem beim Check-In an den Flughäfen künftig nur noch US-Bürger arbeiten dürfen. Tausende Immigranten verlieren also ihre Jobs. An der City University of New York sollen künftig alle Studierenden, die keine Aufenthaltspapiere vorlegen, die höchste Gebühr - also mehrere Tausend Dollar - bezahlen. Bisher spielte der Aufenthaltsstatus an der Uni keine Rolle.

Die Bürgerrechtsgruppen stehen wieder am Anfang. Anstatt beim Ausfüllen von Einbürgerungsanträgen zu helfen, verteilen sie nun Ratgeber: »Wie verhalte ich mich bei einer Razzia?« Die Bundespolizei FBI sollte im Dezember 5 000 junge Männer »befragen«, die in den vergangenen zwei Jahren aus islamischen Ländern legal in die USA eingereist sind. Mehr als 200 Universitäten und Colleges stellten dem FBI ihre Daten über arabische und asiatische Studierende zur Verfügung. Eine nationale Datenbank soll künftig alle ausländischen Studierenden erfassen. Damit will man feststellen, wer vorgeschriebene Seminare nicht belegt oder gar nach dem Ablauf seines Visums nicht ausreist.

Immerhin: Die Umsetzung von Ashcrofts Vorschlägen scheitert nicht selten an internen Widersprüchen. Wegen Kompetenzgerangels wird die nationale Studentenvisa-Datenbank wohl erst in zwei Jahren einsatzbereit sein. Die mächtige rechtslastige Waffenlobby, normalerweise eine wichtige politische Stütze für Ashcroft, verhinderte es, dass das FBI Zugriff auf Listen von Schusswaffenbesitzern bekam. So konnte nicht überprüft werden, ob die gut 1 200 ausländischen Internierten jemals Waffen erworben hatten.

Vereinzelt werden auch moralische Bedenken gegen die pauschale Stigmatisierung von moslemischen Immigranten laut. Als Ashcroft seine 5 000 Verhöre anordnete, verweigerte ihm eine Reihe von örtlichen Polizeichefs die Gefolgschaft. Die »Liste der Verdächtigen« sei ja wohl nur nach dem Kriterium der Herkunftsländer zusammengestellt und nicht nach konkreten, individuellen Anhaltspunkten, ließen sie das FBI wissen. Das erinnere an »racial profiling«, also an rassistische Rasterfahndung.

Einer der Verweigerer war Andrew Kirkland, der Polizeichef von Portland (Oregon), dem das FBI die Namen von 23 arabischstämmigen Männern vorgelegt hatte. Der New York Times sagte er: »Da habe ich nicht lange überlegen müssen. Wir werden es nicht tun.« Solche Redlichkeit kann man sich in einer deutschen Polizeidirektion nur schwer vorstellen.