Krise und Proteste

Alle sollen verschwinden!

Das Oberste Gericht Argentiniens hat die Sperrung der Bankkonten für verfassungswidrig erklärt. Doch die Richter sind ebenso verhasst wie die Politiker.

Argentinien ist immer für Überraschungen gut. Am vergangenen Freitag erklärte der Oberste Gerichtshof des Landes die »corralito«, die Sperrung von Bankkonten und die Limitierung von Bargeldauszahlungen, für verfassungswidrig. Präsident Eduardo Duhalde sprach nach der völlig unerwarteteten Entscheidung von einem »institutionellen Putsch«. Schließlich sei das Urteil »zufällig« kurz nach der Entscheidung des Parlaments gefallen, Korruptionsvorwürfe gegen die obersten Juristen in einem Untersuchungsausschuss prüfen zu lassen.

In der Tat kann man den Urteilsspruch als Schachzug einiger »sehr erboster Richter« und ihres politischen Freundes, des ehemaligen Präsidenten Carlos Menem sehen, wie die argentinische Tageszeitung Pagina 12 schrieb. Denn gerade jene fünf der neun Juristen, die für die Verfassungswidrigkeit der »corralito« stimmten, wurden einst von Menem in ihr Amt gesetzt.

Der Widersacher Duhaldes, der selbst mitverantwortlich ist für die schwere Krise des Landes, setzt offenbar auf eine weitere Eskalation, um seine Position zu stärken. Zwar begannen mit der Sperrung der Konten im Dezember die Auseinandersetzungen auf der Straße, die bis heute kein Ende gefunden haben. Doch mittlerweile wird auch die nun verfügte Aufhebung wohl nicht für mehr Ruhe sorgen. »Viele Leute werden jetzt denken, sie gehen einfach zur Bank und bekommen dort ihr Geld, doch man wird sie nicht zufrieden stellen können«, prophezeite Duhalde.

Seine Regierungserklärung vom vergangenen Freitag änderte er um in einen Appell an die Bevölkerung, »sich nicht betrügen zu lassen« und den »sozialen Frieden« zu wahren. Bis einschließlich Dienstag sollten die Banken geschlossen bleiben. Die Zwischenzeit sollte offensichtlich dazu genutzt werden, alle Maßnahmen zu durchdenken, die gleichzeitig die Liquidität der Banken und die Ersparnisse der Bevölkerung garantieren könnten.

Zur Debatte stehen ein modifiziertes »corralito«, die Umwandlung der Guthaben in Schuldscheine, und ein Austausch der unliebsamen Richter. Folgt man in Buenos Aires dem letzten Weg, so würde die Regierung möglicherweise etwas Vertrauen in der Bevölkerung zurückgewinnen. Schließlich hat sich der Protest gegen die »korrupten Richter« zu einem zentralen Anliegen der »cacerolazos«, der Demonstrationen mit Kochtopfgeklapper, entwickelt.

Bereits zum sechsten Mal versammelten sich am vergangenen Donnerstag Tausende vor dem Obersten Gerichtshof und zogen anschließend trommelnd weiter zu den Häusern einzelner Richter. »Das ist meine Waffe«, sagte die Rentnerin Marta Cerbone, während sie den Journalisten ihren schon ziemlich zerbeulten Kochtopf entgegenhielt. Die Mehrzahl der Flugblätter und Transparente der »clase media« machte weder auf Partei-, noch auf Organisationszugehörigkeit aufmerksam. Im Mittelpunkt standen wie üblich die »asambleas vecinales«, die man etwa mit »Nachbarschaftstreffen« übersetzen kann. Sie haben sich mittlerweile in der Hauptstadt und in fast 50 verschiedenen Orten der Provinz Gran Buenos Aires gebildet.

150 Menschen durchschnittlich treffen sich ein bis zweimal wöchentlich an zentralen Plätzen ihres Viertels, um über aktuelle Anliegen zu diskutieren. Sie bilden Ausschüsse zu den Themen Bildung, Menschenrechte, Arbeit und Gesundheit. Stadtteilteilübergreifende Versammlungen finden sonntags im Park Centenario statt. Bis zu 3 000 Menschen beteiligten sich in den vergangenen Wochen an diesen Treffen. Hier wurde etwa beschlossen, dass die »cacerolazos« künftig jeden Freitag auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Plaza de Mayo abgehalten werden. Es gibt auch erste Ansätze einer Zusammenarbeit zwischen den stadtteilbezogenen Asambleas und den piqueteros, den organisierten Arbeitslosen. Noch vor Monaten waren die piqueteros in der Mittelschicht verschrieen.

Die Diskussionen in den Asambleas verlaufen laut, aber demokratisch. Vorschläge werden oft bis in die Nacht hinein diskutiert, über die Rednerliste kann jeder das Wort erhalten, Redezeiten von zwei Minuten sind die Obergrenze. Wer im Verdacht steht, mit dem Staat oder den offiziellen Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, hat keinen Rückhalt mehr. Im Zweifelsfall wird ihm durch einen Mehrheitsbeschluss die Delegiertenfunktion entzogen.

Das Motto der neu konstituierten Bewegung ist eindeutig: »Alle sollen verschwinden, keiner soll bleiben.« Anders als es noch im Dezember erschien, ist die Befreiung vom »corralito« nicht mehr das einzige Anliegen. »Auch wenn die Guthaben wieder freigegeben sind, sollen die Korrupten verschwinden«, schimpft eine Frau auf der Asamblea des Altstadtviertels San Telmo und erntet lauten Applaus. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs betrachtet man mit großer Skepsis. Kaum war der Richterspruch bekannt geworden, versammelten sich Demonstranten vor dem Justizgebäude, um gegen die »opportunistische und verlogene« Entscheidung zu demonstrieren, wie auf einem Transparent zu lesen war.

Ja, die Regierung »denkt genauso«, ließ Duhalde in einer Ansprache wissen. Wäre er nicht Präsident, würde er sich vermutlich an Kochtopfdemonstrationen oder Straßenbesetzungen beteiligen. Solche Aussagen wirken jedoch nicht nur nach den brutalen Polizeieinsätzen vor knapp zwei Wochen lächerlich. Denn die Zugeständnisse halten sich bislang in Grenzen. Staatliche Angestellte sollen künftig wieder frei über ihr Gehaltskonto verfügen können. Dass die Beschäftigten jedoch teilweise seit vier Monaten auf ihr Gehalt warten, erwähnten Duhalde und der Generalsekretär der größten Gewerkschaft Confederación General de Trabajo (CGT), Rudolfo Daer, nicht.

Um den Mittelstand zu besänftigen, beschloss die Regierung zudem, dass Kredite unter 100 000 Dollar im Verhältnis eins zu eins getauscht werden sollen. Im Interesse ausländischer Banken und großer Unternehmen einigte man sich darauf, Schulden von über 100 000 Dollar im Verhältnis eins zu 1,2 anzugleichen. Die durch diese Maßnahmen entstehenden Milliarden-Differenzen für die Banken, die im Vergleich zum realen Wechselkurs entstehen, übernimmt der argentinische Staat. Die Kosten sollen durch die Einführung einer Erdölsteuer finanziert werden.

Das aber rief erneut die Erdölunternehmen auf den Plan. Die spanische Repsol drohte damit, 5 000 Beschäftigte zu entlassen. Auch die deutsche BASF, die in Argentinien ihr Geld mit Öl und Erdgas verdient, beschwerte sich über sinkende Profite. Nach Schätzungen von Wirtschaftsexperten verliert das Unternehmen durch die Maßnahmen der Regierung 90 bis 100 Millionen Euro, etwa drei Prozent ihres Umsatzes.

Entsprechend schwierig war die Situation für Argentiniens Außenminister Carlos Ruckauf, als er in der vergangenen Woche nach Italien, Spanien und in die USA reiste, um über Unterstützungszahlungen zu verhandeln. Das Land habe in der Vergangenheit den Internationalen Währungsfonds (IWF) getäuscht, ließ er vor seiner Abfahrt wissen. Jetzt aber sei man bereit, »definitive Maßnahmen« zu ergreifen. »Wir wissen, dass wir zu einer Übereinkunft mit dem Fonds kommen müssen, aber gleichzeitig können wir nicht gegen die Interessen der Bevölkerung handeln«, erklärte Ruckauf in Madrid.

Die internationalen Finanzinstitute haben nach langem Zögern nun erstmals Geld in Aussicht gestellt. Nach einem Treffen mit dem IWF-Direktor Horst Köhler räumten die interamerikanische Entwicklungsbank und die Weltbank ein, man könne jeweils eine Milliarde Dollar zur Verfügung stellen. Mit den Krediten solle die Gesundheits- und Ernährungslage verbessert, der Schulbesuch ermöglicht und Selbsthilfe finanziert werden. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gab Köhler jedoch zu denken. Wie auch Duhalde unterstütze er eine schrittweise Freigabe der Konten, sagte er auf dem Weltwirtschaftsforum in New York. Der Beschluss kompliziere die Lage nun enorm.

Doch auf den Asambleas und Cacerolazos setzt man nicht mehr auf solche »Hilfe« von außen. »Niemand kann uns mehr verarschen. Deshalb hält sich der IWF bedeckt«, riefen Demonstranten am Wochenende auf der Plaza de Mayo. »Jede unserer Mobilisierungen ist eine Denunziation dessen, was sie getan haben.«