Die Atompolitik

Friede den Meilern

Was hat die Ablösung Kohls eigentlich gebracht? Gefühltes Rot-Grün, eine Serie zur Bundestagswahl.

Kanzlerkandidat Edmund Stoiber stößt mit seinen Wahlkampfversprechen bei der Energiewirtschaft auf taube Ohren. Die Stromkonzerne wollen auch im Falle eines Wahlsieges von CDU und CSU am so genannten Atomkonsens festhalten. Angeblich soll der forsche Bayer, der in den letzten Wochen mehrfach angekündigt hatte, im Falle seines Sieges bei der Bundestagswahl den Energiekonsens wieder rückgängig zu machen, von den Spitzen der deutschen Atomwirtschaft bereits zurückgepfiffen worden sein.

Auch wenn er ein direktes Gespräch mit Stoiber dementiert, betont der Vorstandsvorsitzende des baden-württembergischen Energiekonzerns EnBW, Gerhard Goll: »Wir stehen zu der Verständigung, die wir mit dieser Bundesregierung abgeschlossen haben. An politischen Spekulationen für die Zeit nach der Bundestagswahl beteiligen wir uns nicht.« Mit Günter Marquis bekräftigt auch der Präsident des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft (VDEW) den Bestand des Vertrages über den September 2002 hinaus, unabhängig vom Wahlergebnis. Auch wenn sie den Atomausstieg nicht für richtig halte, akzeptiere die Energiewirtschaft das Primat der Politik. »Wenn wir eine Vereinbarung unterzeichnen, dann stehen wir auch dazu«, beteuert Marquis.

Doch Stoiber bleibt stur. »An mich ist niemand herangetreten«, dementiert er alle Meldungen, die besagen, die Atomindustrie hätte ihn gebeten, am Atomkonsens festzuhalten. »Ohne die bestehenden Kernkraftwerke sind die Klimaschutzziele nicht erreichbar, zu denen sich Deutschland international verpflichtet hat.« Außerdem sei der angebliche Ausstieg aus der Atomenergie in Wahrheit ein Einstieg in den Import von billigem Atomstrom aus dem Ausland. Der Fraktionsvorsitzende der Union, Friedrich Merz, relativiert dagegen die vollmundigen Ankündigungen Stoibers mit dem Hinweis, man könne sich mit der Industrie auch noch in 15 bis 20 Jahren über die dann anstehenden energiepolitischen Notwendigkeiten verständigen. Der großspurig angekündigte Ausstieg aus dem Atomausstieg dürfte also gleich nach der Wahl im Herbst keine Rolle mehr spielen.

Der für Stoiber peinliche Vorgang zeigt, dass die Atomindustrie offensichtlich weiß, was sie an Rot-Grün hat. Der Atomkonsens garantiert für die AKW Laufzeiten von mehr als 30 Jahren, Sonderregelungen ermöglichen den Weiterbetrieb der ältesten Meiler. Reststrommengen stillgelegter Kraftwerke können auf die modernsten Anlagen übertragen werden. Der mittelfristige Ausstieg aus der viel zu teuren Wiederaufbereitung, die Minimierung der Castor-Transporte durch die dezentrale Zwischenlagerung an den Kraftwerksstandorten und die aufgeschobene Suche nach einem geeigneten Endlagerstandort sorgen für Ruhe bei dem Streit um die Entsorgung. Auch die steuerlichen Privilegien in Form der milliardenschweren Entsorgungsrückstellungen bleiben den Konzernen erhalten. Im Rahmen einer so genannten Friedenspflicht hat sich Rot-Grün außerdem darauf festgelegt, auf eine Erhöhung der geltenden Sicherheitsstandards zu verzichten.

Sogar der gesellschaftliche Konflikt um die Nutzung der Atomenergie wurde von Rot-Grün weitgehend befriedet. Nach einem zweijährigen Transportstopp - seinerzeit von Umweltministerin Angela Merkel (CDU) wegen des Kontaminationsskandals verhängt - laufen die anfänglich noch von Widerstand begleiteten Atommülltransporte in die Wiederaufbereitung mittlerweile reibungslos. Der zweite Transport in das Zwischenlager Gorleben kam im November des letzten Jahres ohne die sonst üblichen spektakulären Aktionen an sein Ziel. Selbst am symbolträchtigsten Ort des Anti-Atom-Widerstandes scheinen die rot-grüne Befriedungspolitik und die polizeiliche Zermürbungsstrategie erfolgreich zu sein.

So blieb sogar nach den Terroranschlägen vom 11. September, die noch einmal eindrucksvoll das Gefahrenpotenzial dieser Technologie deutlich gemacht haben, der deutschen Atomindustrie eine Sicherheitsdebatte erspart. Forderungen nach einer schnelleren Abschaltung der Atomkraftwerke waren in der politischen Debatte marginalisiert.

Und auch die schweren Störfälle der letzten Zeit haben die Betreiber problemlos überstanden. Im schleswig-holsteinischen AKW Brunsbüttel wurde eine Rohrexplosion im Sicherheitsbereich über Wochen geheim gehalten, da ein sofortiges Abschalten der Anlage zu teuer erschien.

Im Kernkraftwerk Phillipsburg blieb gleich eine ganze Pannenserie ohne ernsthafte Konsequenzen. Wochenlang war eine zu geringe Borsäure-Konzentration im Notkühlsystem unentdeckt geblieben. Ohne Realisierung der angekündigten Verbesserungen im Sicherheitsbereich ist das Kraftwerk seit Mitte Dezember wieder am Netz. Trotzdem wurde die Zuverlässigkeit der Betreiberinnen Hamburger Elektrizitätswerke (HEW) und EnBW kaum in Frage gestellt.

Überhaupt ist in der Branche von Katerstimmung angesichts rot-grüner Ausstiegspläne nichts zu spüren. In seinem Jahresbericht 2001 verkündet das Deutsche Atomforum stolz ein »Kernenergierekordjahr für Deutschland«. So viel wie die 171 Milliarden Kilowattstunden Atomstrom wurden in Deutschland noch nie produziert. Unter den ersten zehn Plätzen in der globalen Stromerzeugungsbilanz finden sich gleich acht deutsche Reaktoren. Das AKW Isar 2 wurde sogar zum Weltmeister gekürt.

Kein Wunder also, dass sich die Atomlobby in ihrem Jahresbericht selbst feiert: »Unter den 31 Kernenergie nutzenden Nationen der Erde produzierte Deutschland mit der vergleichsweise niedrigen Zahl von 19 Reaktoren die vierthöchste Strommenge hinter den USA, Frankreich und Japan.« Dennoch gilt mysteriöserweise der angebliche Ausstieg aus der Atomenergie immer noch als eines der wenigen Vorzeigeprojekte der rot-grünen Koalition.

Die tatsächliche Bilanz nach vier Jahren rot-grüner Regierungspraxis zeigt ein anderes Bild. Entgegen grüner Versprechungen beim Regierungsantritt wurde bisher kein einziges AKW vom Netz genommen, und von einer Ausstiegsorientierung ist nichts zu spüren. Obwohl Jürgen Trittin die Wiederaufbereitung mit sofortiger Wirkung verbieten wollte, laufen die Transporte in die WAA noch mindestens bis zum Jahr 2005 weiter. Und auch das in der Atomgesetznovelle enthaltene Neubauverbot bereitet der Atomindustrie keine Probleme. Wegen vorhandener Überkapazitäten und billigen Importstroms auf den liberalisierten europäischen Strommärkten will in den nächsten zehn Jahren ohnehin niemand neue Kraftwerke bauen. Mit so einem Atomausstieg lässt es sich prima leben.