Indien nach den Unruhe

Hindutva, Hetze und Pogrome

Hindu-Nationalisten planen eine Provokation der muslimischen Minderheit. Die Regierungspartei BJP steht vor einem Dilemma.

In einer »friedlichen, freudigen, vergnügten und gesegneten Atmosphäre« solle die Tempelzeremonie im nordindischen Ayodhya stattfinden, beteuerte der Führer des Weltrats der Hindus (VHP) am Donnerstag der vergangenen Woche. Einen erneuten Ausbruch der Gewalt befürchten hingegen die meisten Beobachter, sollte die Organisation ihre Pläne umsetzen. Der VHP will zu jener Stelle mobilisieren, wo 1992 ein aufgepeitschter Mob eine Moschee niedergerissen hatte. Am kommenden Freitag sollen dort die ersten Säulen eines Tempels zu Ehren des Gottkönigs Ram aufgestellt werden, dessen Geburtsort das Gelände sein soll.

Nach dem mehrtägigen Gemetzel im Bundesstaat Gujarat will die Regierung diese Provokation gegenüber der muslimischen Minderheit verhindern. Für die hindu-nationalistische Regierungspartei BJP bedeutet die Situation ein Dilemma. Einerseits ist der VHP ihre Schwesterorganisation. Andererseits regiert die BJP in einer wackligen Koalition aus 24 Parteien, von denen einige auf die Stimmen muslimischer Wähler angewiesen sind.

Der Druck, eine Wiederholung der Gewaltorgie zu verhindern, ist groß. Denn viele machen die BJP dafür verantwortlich, dass es bei den Ausschreitungen, die Anfang vergangener Woche nur durch den Einsatz der Armee unter Kontrolle gebracht werden konnten, mehr als 700 Tote gab.

Nach dem Brandanschlag auf einen mit VHP-Aktivisten gefüllten Zug am 27. Februar in Godhra, bei dem 58 Menschen starben, waren Racheakte an der muslimischen Minderheit absehbar. Die BJP-Regierung von Gujarat unterstützte sogar einen vom VHP initiierten Proteststreik, der die ideale Voraussetzung für das Zusammenrotten von Gewalttätern lieferte. Als das Brandschatzen längst begonnen hatte, warteten viele Polizisten vergeblich auf Einsatzbefehle. In zahlreichen Fällen schritten anwesende Polizisten nicht ein, als Geschäfte und Häuser geplündert und in Brand gesteckt wurden. Andere beteiligten sich Zeitungsberichten zufolge selbst an den Übergriffen.

Wer sich nicht auf die Seite der Mordbrenner schlug, setzte seine Karriere aufs Spiel. So zitierte die Tageszeitung The Asian Age einen namentlich nicht genannten hohen Polizeibeamten mit den Worten: »Während die meisten Polizisten es bewusst vermieden haben, in ihren Berichten Aktivisten von BJP, VHP oder Bajrang Dal zu nennen, haben dies einige gewissenhafte Polizeibeamte getan. Sie sind nun unter enormem Druck, die Berichte zu ändern.« Ein anderer Beamter gab an, er sei vom Innenminister Gujarats aufgefordert worden, Mordvorwürfen gegen BJP-Mitglieder nicht nachzugehen. Obgleich Aktivisten und Funktionäre der BJP, der VHP und der Prügeltruppe Bajrang Dal in mehreren Fällen als Anführer der Banden auffielen, soll unter den 2 500 Verhafteten kein einziges Mitglied dieser Organisationen sein.

Kommentatoren waren fassungslos, als Narendra Modi, der Ministerpräsident von Gujarat, die Polizei für ihren Einsatz lobte. Nach dem Willen seiner Regierung sollten die Angehörigen der Opfer des Anschlags auf den Zug umgerechnet etwa 4 800 Euro erhalten, die Hinterbliebenen der - meist muslimischen - Opfer der Ausschreitungen dagegen nur die Hälfte. Nach Protesten in den Medien wird dies nun wohl geändert.

Obgleich die Opposition im Bundesparlament die späte Reaktion der Regierung kritisierte und den Rücktritt des Innenministers forderte, liegt die Verantwortung für die Ereignisse in erster Linie bei der Regierung von Gujarat. Bei der drohenden Zuspitzung in Ayodhya liegt der Fall anders. Uttar Pradesh wird derzeit von der Zentralregierung verwaltet, da in dem Bundesstaat nach den Wahlen im Februar keine regierungsfähige Mehrheit zustande kam. Damit ist es an der Regierung in Neu Delhi, Exzesse zu verhindern.

Ein kurzer Blick auf das Kabinett verdeutlicht den grotesken Charakter der Situation. Innenminister Lal Krishan Advani führte 1992 gemeinsam mit dem VHP eine Millionen-Prozession durch Nordindien an, die eine Spur der Gewalt hinter sich herzog und schließlich die Babri-Moschee zerstörte. Murli Manohar Joshi, der heute als Bildungsminister die Hinduisierung des Schulunterrichts vorantreibt, war ebenfalls beteiligt. Die Tourismusministerin Uma Bharati machte sich damals mit ihren Reden über den Blutdurst der Muslime einen Namen. Alle drei schauten von einem Podium aus dem Abriss der Moschee aus dem 16. Jahrhundert zu, der die blutigsten Ausschreitungen der jüngeren Geschichte auslösen sollte.

BJP und VHP sind Tochterorganisationen der militanten Kadertruppe RSS. Der Kern ihrer Hindutva-Ideologie ist die Vorstellung, dass die Hindu-Gesellschaft immer wieder hilflos Invasionen und Angriffen ausgesetzt war und ist, da sie, schwach durch die Spaltung in Kasten, dem Zusammenhalt ihrer Feinde nichts entgegensetzen kann. In dieser Weltsicht sind die 25 Millionen Christen und vor allem die 150 Millionen Muslime gefährliche Fremdkörper im Organismus der einst glorreichen »Hindu-Nation« und gelten als Hauptfeinde. Ziel ist es, die vermeintliche Schwäche mit einem umfassenden Bewusstseinswandel aller Hindus zu überwinden.

Zu diesem Zweck gründete der RSS Organisationen, die in allen Sphären der Gesellschaft dessen Ideologie verbreiten sollen. Die BJP ist der politische Arm, der VHP soll den Hinduismus vereinheitlichen, und mehr als 100 weitere Organisationen, darunter die größte Gewerkschaft und der größte Studentenverband des Landes, sind in allen erdenklichen Bereichen aktiv. Zwar nimmt der RSS durch die Besetzung von Führungsposten massiv Einfluss, doch arbeiten die Verbände in ihren jeweiligen Feldern autonom, sodass es zuweilen, wie nun zwischen dem VHP und der BJP, zu Interessenkonflikten kommt.

RSS-Führer versuchen derzeit zu vermitteln. In der vergangenen Woche trafen Premierminister Atal Bihari Vajpayee und weitere Minister immer wieder Vertreter der RSS und des VHP, wobei offiziell ein dem VHP nahe stehender hoher Hindu-Priester eine »Vermittlerrolle« einnahm.

Für die BJP ist das Thema mehr als unangenehm. Damit die anderen Parteien 1998 überhaupt mit ihr koalierten, hatte die BJP unter anderem die Forderung nach einem Ram-Tempel zurücknehmen müssen. Dem RSS wiederum ist die Anpassung der Partei grundsätzlich recht, sofern es dem Machterhalt dient, denn eine ihm wohlgesonnene Regierung erweitert den Spielraum für das langfristige Projekt der totalitären Durchdringung der ganzen Gesellschaft. Für den VHP dagegen ist der Tempel das zentrale Thema, entsprechend fühlen sich viele in der Organisation von der BJP verraten.

Zudem versprechen die derzeitigen Spannungen zwischen Muslimen und Hindus einen Mobilisierungserfolg, wie ihn die Organisation seit zehn Jahren nicht erlebt hat. Nach der Zerstörung der Babri-Moschee hatte das Thema seine Zugkraft verloren.

Nach jedem Treffen der verkrachten Gruppen gaben VHP-Führer und andere Beteiligte neue widersprüchliche Äußerungen zu Protokoll. So erklärte der Internationale Präsident Ashok Singhal zur allgemeinen Überraschung, der VHP werde ein Gerichtsurteil zur Zukunft des umstrittenen Geländes akzeptieren. Zugleich wiederholte jedoch der Präsident Vishnu Hari Dalmia die bekannte VHP-Position, wonach ein Gericht nicht in Fragen des Glaubens entscheiden könne.

Bis zum Redaktionsschluss war lediglich klar, dass der VHP seine Versammlung auf jeden Fall abhalten will, offen blieb allerdings, ob er aggressiv mobilisiert oder es bei einer kleinen Zusammenkunft einiger Priester belässt. Was auch immer am Freitag geschehen mag, das Ayodhya-Problem wird Indien noch lange beschäftigen. Sollte es jemals zu einer Lösung kommen, dürfte der VHP aber schnell neue Aufgaben finden. In der vergangenen Woche erinnerte Präsident Dalmia daran, dass die Organisation zwei weitere Moscheen im Visier hat: »Wir haben 3 000 Tempel verloren. Als Zeichen unseres guten Willens haben wir nur nach dreien gefragt. Die Forderungen nach Kashi und Mathura aber bleiben aktuell.«