Debatte über den Imperialismus

Das letzte Studium des Kapitalismus

Wer wissen will, wie die Erschließung des Weltmarkts funktioniert, wird mit Lenins Imperialismustheorie nicht weit kommen. Aber mit Marx.

Der Imperialismus, so geht die Rede, ist ein Weltsystem der politischen Ökonomie, das neuerdings auch mit Begriffen wie »Globalisierung« oder »neue Weltordnung« charakterisiert wird. Zweck dieses neuen Imperialismus ist demnach eine intensivierte ökonomische Erschließung des Weltmarkts, nachdem dessen territoriale Erschließung weitgehend abgeschlossen ist. Akteure dieser intensiven Kapitalisierung der Welt sind global agierende Konzerne. Soweit, so nachvollziehbar, auch wenn Kritker diese Charakterisierung als unscharf abtun.

Kombiniert wird diese Rede immer wieder mit spezifischen Zuordnungen, die sich zwar seltener auf nationale Konzerne beziehen, weil dies offensichtlich vom Gang der Geschichte widerlegt wurde, dafür aber um so häufiger auf Nationalstaaten und Staatenverbände. Am meisten verbreitet ist das Sprechen vom US-Imperialismus, gelegentlich hört man auch vom deutschen oder EU-Imperialismus. Der Staat erscheint hier als meist militärischer, weltweiter Vollstrecker der Interessen national ansässiger Kapitale.

Als Kampfbegriff - und zwar keineswegs nur als linker - geistert das Wort Imperialismus schon lange herum. Als theoretischer Begriff hat er eine wirre Karriere hinter sich, an deren Beginn Rosa Luxemburg und vor allem Wladimir Iljitsch Lenin stehen.

Bei Lenin ist der Imperialismus erstens »monopolistischer Kapitalismus«, zweitens »parasitärer und faulender Kapitalismus« und drittens »sterbender Kapitalismus«.

Punkt drei taucht bereits im Titel von Lenins Werk »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« auf. (Auf dem Rücken meiner Ausgabe steht »Studium«, dieser Fehldruck gefällt mir gut.) Diese Annahme ist mittlerweile erledigt. Alle prophezeiten gesetzmäßigen Tode des Kapitalismus haben sich nicht bewahrheitet. Lenins zweiter Punkt - der »parasitäre oder faulende Kapitalismus« - bietet zwar inzwischen ein Einfallstor für allerlei unter dem Etikett »Kulturimperialismus« daherkommende und das Abendland untergehen lassende Phantasien, ist aber ansonsten Unfug.

Bleibt der noch immer gerne angeführte erste Punkt, die These vom »monopolistischen Kapitalismus«, also der Verschmelzung des Kapitals mit der Staatsmacht. Dieser augenscheinliche Unsinn, wonach Staat und Ökonomie plötzlich eins geworden seien - und der Staat nicht mehr die »Besonderung« der Gesellschaft ist, wie es noch bei Marx hieß -, geht auf Lenin zurück. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts habe, so Lenin unter Berufung auf den britischen Ökonomen John Atkinson Hobson, der Prozess der Konzentration und Zentralisation seinen Abschluss gefunden. Die entstandenen Monopole seien mit dem Staat zusammengewachsen. Die staatliche und die politische Macht obliege seither dem Finanzkapital.

Dieses gilt nicht mehr, wie noch bei Marx, als besonderer, aber notwendiger Teil der kapitalistischen Ökonomie, sondern agiere selbst in staatlicher Funktion. Welch gefährliches Potenzial diesem Theorem innewohnt, dürfte die antisemitische Figur des »schaffenden« Industriekapitals verdeutlichen. Die klassische, sowohl bei frühen Staatstheoretikern wie Thomas Hobbes und John Locke als auch bei Marx grundlegende Unterscheidung von politischer und ökonomischer - also gesellschaftlicher - Sphäre ist bei Lenin getilgt.

Empirisch ist die Rede vom (Staats-) Monopol bis heute nie belegt worden. Nachweisen lassen sich nur mehr oder minder erfolgreiche Versuche von Einzelkapitalen, auf die herrschende Politik Einfluss zu nehmen.

Schaut man sich beispielsweise die aktuelle Konkurrenzsituation in der US-Stahlindustrie an, sieht man sich untereinander bekämpfende Konzerne, aber kein Monopol. Betrachtet man die Situation in der Mikroelektronik, wo die Monopolkonstituierung kurz bevorsteht und wo Microsoft über 90 Prozent des Weltmarkts abdeckt, fallen einem zuerst die harschen Versuche des US-Staates ein, dieses Monopol im Sinne der Gesamtreproduktion nicht nur der US-Volkswirtschaft zu verhindern. Wo man auch hinblickt - eine Analyse der politischen Ökonomie der Gegenwart ergibt keinen Grund, warum man mit Lenin hinter die Marxsche Analyse zurückfallen sollte.

Anders als Lenin erkennt übrigens Luxemburg, dass die Vorstellung, Einzelkapitale oder bestimmte Kapitalfraktionen könnten einen Staat zu ihrem beliebig einsetzbaren Instrument machen, mit dem Marxschen Staats- und Gesellschaftsverständnis nichts zu tun hat: »Die Marxsche Analyse der Akkumulation war zu einer Zeit entworfen, als der Imperialismus noch nicht die Weltbühne betreten hatte, und die Voraussetzung, die Marx jener Analyse zugrunde legt, die endgültige absolute Herrschaft des Kapitals in der Welt, schließt gerade von vornherein den Prozess des Imperialismus aus.« Luxemburg hält das aber für einen Irrtum bei Marx.

Luxemburg wie Lenin können sich kapitalistische Expansion nur militärisch vorstellen, nicht jedoch auf dem klassisch bürgerlichen Weg der Handelsbeziehung. Der in der Ware und folglich auch in der Ware-Geld-Beziehung enthaltene Fetisch aber führt zu einer Hegemoniebildung, die sich im Wesentlichen dem Umstand verdankt, dass die Hegemonisierten ihrer Herrschaft zustimmen, wie überhaupt jede kapitalistische Ware-Geld-Beziehung auf dem freien Willen der Akteure basiert, so wie der Vollzug des Tausches die Zustimmung schafft.

Kriegerische Expansionen eines Staates, in dem kapitalistische Ökonomie herrscht, galten Luxemburg, Lenin und ihren zahlreichen Epigonen stets als Feldzüge im Auftrag von Einzelkapitalen oder Kapitalfraktionen. Dann geht es, so die These, um Rohstoffe, um strategische Knotenpunkte (Häfen, Transportwege etc.) oder um Absatzmärkte, ohne dass jemals einer bemerkt hätte, dass dies die theoretisch wackligste Annahme ist- als seien die Marktteilnehmer im okkupierten Gebiet keine bürgerlichen Subjekte, sondern müssten wie im Feudalismus bestimmte Warenquanten abnehmen.

Doch schon die Annahme, alle Kapitale hätten Interesse an der militärischen Erschließung wichtiger Rohstoffquellen, ist politökonomisch nicht nachzuvollziehen. Zum einen verursachen die Vorbereitung und die Durchführung militärischer Operationen Kosten und bergen Risiken, die nicht wenigen Teilen des Kapitals als hinderlich erscheinen - etwa, wenn Arbeitskräfte abgezogen und unter Soldatensold gestellt werden oder die Aufrüstung mittels Steuererhöhungen finanziert werden soll. Der »Staat selbst und was drum und dran hängt, gehört zu (den) Abzügen von der Revenue, sozusagen den Konsumtionskosten für den einzelnen, den Produktionskosten für die Gesellschaft«, schreibt Marx. Der Staat, nicht das Kapital, brauche die Armee, »um Zuwachs an Macht und Reichtum zu gewinnen«.

Zum zweiten bedarf ein Einzelkapital oder eine Kapitalfraktion, um die Verfügungsgewalt über eine Ölquelle zu bekommen, keineswegs militärischer Gewalt, vorausgesetzt der Staat, der der ölquellenbesitzenden Gesellschaft die Form gibt, verweigert sich nicht den politischen Erfordernissen des Weltmarkts. Diese Verweigerung praktizierten die Sowjetunion und der RGW jahrzehntelang, aber da ihre Abschottung nicht total war, setzten sich letztlich auch hier die genannten politischen Erfordernisse durch. »Sachzwang Weltmarkt« hat Elmar Altvater das in anderem Zusammenhang genannt.

Wenn die Erschließung eines bislang dem Weltmarktzugriff nicht offen stehenden Territoriums ohne militärische Gewalt und mit Zustimmung der Bevölkerung geschieht, ist das allen ökonomisch Interessierten lieber. »Es zeigen sich hier besonders die zivilisierenden Wirkungen des Kapitals«, heißt es bei Marx über die Effekte des internationalen Handels, der eben nationalstaatliche Borniertheiten aufhebt.

Nicht, dass kriegerische Aktivitäten von Staaten, die man gemeinhin imperialistisch nennt, ohne Bezug auf die politökonomische Verfasstheit ihrer Gesellschaften erklärt werden können, also nicht-ökonomisch wären. Aber: Es gibt weiterhin auseinanderfallende Kapital- und Staatsinteressen, und mitunter ist es so, dass der Staat seine Interessen auch gegen die Interessen großer und mächtiger Einzelkapitale vertritt und durchsetzt.

Diese reagieren sowohl mit - meist erfolgloser - Einflussnahme auf als dienlich erachtete Staatsapparate, als auch mit dem Verlassen des nationalstaatlichen Kontrollbereichs: der Weltmarkt als politisch unzureichend reguliertes Feld. Dies kreiert das neue Kampffeld einer Weltinnenpolitik, auf dem nationalstaatlich gebundene Interessen eine nur periphere Rolle spielen und auf dem folglich jede Menge überstaatliche oder nichtstaatliche Akteure - von Nato bis Attac - auftreten.

Die zu beobachtende und scheinbar gegenläufige kulturelle Relevanz des Nationalen und Regionalen ergibt sich aus deren Funktion, Rückzugsort der zu kurz Gekommenen zu sein: Wer auf dem Weltmarkt nicht bestehen kann und keine Weltstars hervorbringt, singt das Lob der Heimat, also des scheinbar von fremden Zumutungen beschützten Nestes, ist also letztlich auch weltmarktgeleitet, aber irgendwie antiimperialistisch. Und schon melden sich Leute zu Wort, die den Begriff besonders unschön verwenden und die über US- oder Yankee-Imperialisten Klage führen, weil dort die Sieger im Ringen um die Hegemonie vermutet werden, in dem man selbst verloren hat. Mag sein, dass »Globalisierung« ein unscharfer Begriff ist. Was aber an »Imperialismus« besser sein soll, zumal wenn man sich seine hiesigen Gegner und Bekämpfer anschaut, erschließt sich wahrlich nicht.