Prozess gegen türkische Familie in Sachsen

Nebenbei zugeschlagen

Weil sie mehrere Neonazis verletzt haben soll, wird der türkischen Familie Sendilmen in Pirna der Prozess gemacht. In dem Verfahren geht es nun auch um die verbotenen Skinheads Sächsische Schweiz.

Die Vertreterin der Anklage lässt keinen Zweifel daran, wen sie für die Opfer und wen für die Täter hält. Gerade hat die Staatsanwältin im Neubau des Pirnaer Amtsgerichts eine halbe Stunde lang die Anklage gegen die türkische Familie Sendilmen, die Betreiber des »Antalya Grills« in der Fußgängerzone der ostsächsischen Stadt, verlesen.

Acht Fälle von gefährlicher gemeinschaftlicher Körperverletzung werden der Familie vorgeworfen. Die Sendilmens sollen zwischen Februar 2000 und Januar 2001 auf Rechtsextreme losgegangen sein, die sich vor dem »Antalya Grill« trafen. Darunter befanden sich mindestens neun mutmaßliche Mitglieder der neonazistischen Skinheads Sächsische Schweiz (SSS). Vorige Woche begann der Prozess.

Minuziös listet die Staatsanwältin die Vorwürfe gegen Selda (21), ihre beiden älteren Brüder Süleyman (23) und Recep (25) sowie die Eltern Adem (51) und Keziban (48) auf. Und sie beschreibt jeden Kratzer auf den zarten Skinheadkörpern, wenn die Schrammen auch noch so klein sind. So soll beispielsweise ein SSS-Mitglied eine nicht einmal Daumennagel große Platzwunde bei einem der Vorfälle davongetragen haben; auch angebliche Verletzungen, die kein Arzt je attestiert hat, werden in der Anklageschrift mit der Standardformulierung »der Zeuge erlitt Schmerzen« gegen die Familie ins Feld geführt.

Doch obwohl sich die Staatsanwaltschaft Dresden, die für das Verfahren zuständig ist, offensichtlich viel Mühe gegeben hat, ging ihre Rechnung nicht auf. Schon zu Beginn des Prozesses hatte Christina Klemm im Namen der fünf Verteidiger der Familie angekündigt, »dass es in diesem Prozess auch um die Verhältnisse in Pirna, die Söhne Pirnas, Fremdenfeindlichkeit und über Angst und das Recht, sich zu verteidigen, wenn niemand anderes einen schützt« gehen würde. Und um die inzwischen verbotenen Skinheads Sächsische Schweiz, eine neonazistische Organisation, die 1997 gegründet worden war und der zuletzt über 100 Mitglieder angehörten.

Mindestens vier der Belastungszeugen gegen die Familie Sendilmen werden in diesem Frühsommer in den noch ausstehenden Verfahren gegen SSS-Angehörige wegen »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« selbst vor Gericht stehen. Aus diesem Grund hat die Verteidigung der Familie beantragt, sämtliche Akten des SSS-Verfahrens als Beweismittel in dem Prozess gegen die Sendilmens hinzuzuziehen. Erst dann mache eine Befragung der »Zeugen« überhaupt Sinn.

So heißt es in der Verbotsverfügung des sächsischen Innenministeriums für die SSS, dass deren Mitglieder regelmäßig gegen den »Antalya Grill« der türkischen Familie vorgegangen seien, um eine »national befreite Zone« zu schaffen und die sächsische Schweiz von »Zecken«, »Kiffern« und Ausländern zu säubern. Zitiert wird darin auch ein internes Schreiben der SSS, wonach »davon ausgegangen werden muss, dass sich in den Räumen über dem Geschäft (der Familie Sendilmen; Anm. d.R.) regelmäßig linke Gewalttäter treffen. Über Lösungen des Problems durch Söldner sollte nachgedacht werden.«

Dass die SSS ihre Aktionen akribisch plante, machte die Verteidigung an einem weiteren Beispiel deutlich. Bei Thomas R., einem der neun SSS-Aktivisten, die die Staatsanwaltschaft als Opfer der Sendilmens und Zeugen der Anklage präsentiert, fand sich ein dicker Ordner mit Fotos, Adressen und anderen persönlichen Informationen über Ausländer und Linke aus der Region. Mithilfe dieses Datenmaterials wurden wohl Gewalttaten vorbereitet. Die Beschaffung derartiger Informationen gehörte offenbar zu den Aufgaben, die so genannte »Anwärter« als »Aufnahmetests« gestellt bekamen. Thomas R., der vor dem Verbot der Organisation zum Führungskreis der SSS zählte, griff aber auch schon mal selbst zur Kamera. So soll er einen der strittigen Vorfälle vor dem »Antalya Grill« ausgelöst haben, indem er das Restaurant fotografierte. Anschließend marschierten knapp zwei Dutzend seiner Gesinnungsgenossen vor dem »Antalya Grill« auf.

Zur Routine in der SSS gehörte es nach der Verbotsverfügung auch, sich im Anschluss an Angriffe und Auseinandersetzungen mithilfe fingierter Alibis gegenseitig zu decken. Auf Thomas R. scheinen bislang weder das Verbot noch die bevorstehenden Prozesse sonderlich abschreckend zu wirken. Der 23jährige Kfz-Mechaniker ist zwar einer der Angeklagten in dem Verfahren gegen die Skinheads Sächsische Schweiz. Das hinderte ihn aber nicht daran, am 13. Februar dieses Jahres als Ordner bei einem Neonaziaufmarsch in Dresden aufzutreten.

Aber vielleicht muss man sich als Neonazi in einer Region, von der selbst der ehemalige Polizeichef Pirnas, Helmar Leo Blech, sagt, dass der »Rechtsextremismus hier aus der Mitte der Gesellschaft kommt«, auch vor nichts wirklich fürchten. Mutmaßliche Mitglieder der SSS saßen in Kommunalvertretungen, arbeiteten in der Stadtsparkasse von Pirna und als Sozialarbeiter bei der Arbeiterwohlfahrt. Beobachter gehen davon aus, dass die SSS und ihr Umfeld durch das Verbot zwar eine »wichtige Infrastruktur« verloren haben, darunter ein komplettes Waffenlager mit zwei Kilogramm TNT, Übungsgranaten und Schusswaffen. Dennoch habe das Verbot bislang keine sonderlich abschreckende Wirkung auf die lokale Szene gehabt.

Dass die SSS auch Ausländer im Visier hatte bei der Durchsetzung der »national befreiten Zone« Sächsische Schweiz, wurde von Seiten der Staatsanwaltschaft zunächst vehement bestritten. Ausländer seien »nur nebenbei« geschlagen worden, behauptete die Staatsanwältin, um dann den Antrag der Verteidiger auf Hinzuziehung der Akten des Verfahrens gegen die SSS abzulehnen, da nicht erkennbar sei, was das eine mit dem anderen zu tun habe. Da schüttelte selbst der vorsitzende Richter am Amtsgericht den Kopf und billigte den Antrag der Verteidiger. In der Folge wurde der Prozess auf unbestimmte Zeit verschoben, die Hand voll Rechtsextremisten, die sich schon zu ihrer Zeugenvernehmung vor dem Gerichtssaal eingefunden hatten, wurden wieder nach Hause geschickt. Und die Familie Sendilmen muss weiter warten.