Jüdisches Leben in Berlin-Mitte

Nicht ganz koscher

An kaum einem anderen Ort wird das »Jüdische« so zelebriert wie in Berlin-Mitte. Dabei entsteht eine »jüdische Kultur« ohne Juden.

Der Mythos des »Jüdischen« wird vermutlich nirgends in Europa so exzessiv inszeniert und zelebriert wie in Berlin Mitte, in der Gegend rund um die Oranienburger Straße. Im Herzen von Ostberlin gelegen, kam dieses Viertel bis zur Wiedervereinigung ziemlich herunter. Die bröckelnden Fassaden und die leer stehenden Häuser zogen nach dem Fall der Mauer Scharen neuer Bewohner an. Erst kamen Künstler, dann Touristen und schließlich die Werbeagenturen. Ein Viertel mit Galerien, Buchläden, Edel-Boutiquen, Cafés, Clubs und Restaurants entstand. Die vielen hier noch oder wieder sichtbaren Orte (Synagogenruine, Schule, Friedhof) scheinen für viele eine Annäherung an jüdische Geschichte erleichtert zu haben.

Zunehmend tauchten auch Phänomene auf, die vorgaukelten, »jüdisch« zu sein: Restaurants wie das Mendelssohn, das zwar mit einem jüdischen Image kokettiert, aber Schweinefleischgerichte mit Sahnesoße serviert, überfüllte Klezmerkonzerte, Filmprogramme und Lesungen, die sich der jüdischen Kultur widmen. Und es gibt eine Vielzahl von Stadtrundgängen, auf denen das »jüdische Berlin« gezeigt werden soll. Auf Nachfrage stellt sich häufig heraus, dass die Veranstalter keinen Juden persönlich kennen und es auch nicht für nötig hielten, irgendeine Form jüdischen Lebens kennen zu lernen.

Wie und wo erscheint also »Jüdisches« im Stadtbild, und wer bezieht sich in welcher Weise darauf? Welche Bilder über Juden und jüdisches Leben werden weitergegeben? Welche Klischees werden reproduziert, verstärkt und prägen die alltägliche Wahrnehmung?

Ganz oben rangiert das Bild des »reichen Juden«. Vor dem Haus der Ahawah, einem ehemaligen jüdischen Kinderheim, an dessen Ort noch einige Jahre nach der Wiedervereinigung eine öffentliche Schule stand, hieß es etwa bei einem Stadtrundgang: »1991 hat die jüdische Gemeinde von einem Tag auf den anderen die Kinder hier 'rausgekantet und einen lukrativen Vertrag mit einer Werbeagentur gemacht.«

Gelegentlich erlebt man Situationen wie diese: Auf dem Öko-Weihnachtsmarkt in der Sophienstraße spielen an einem Samstag drei Männer in schwarzen Mänteln mit Hüten auf Posaunen bekannte Weihnachtslieder. Eine Frau meint: »Das ist aber schön, dass die Juden hier diese Lieder spielen.« Ihr Begleiter kommentiert: »Das sind doch die, die sonst Klezmer spielen.«

Welches Bedürfnis steht hinter dieser Suche nach dem »Jüdischen«? Oder sind diese Inszenierungen mehr eine Selbstaussage der Nichtjuden über ihre Befindlichkeit? Gelegentlich spielen auch Juden im Jewish Disneyland mit, nicht nur in Berlin. In Italien feiert der in Bulgarien geborene und in Italien aufgewachsene Sänger und Schauspieler Moni Ovadja große Erfolge. Er popularisiert vorwiegend die Kultur des osteuropäischen Schtetls, die er seinen Zuhörern als authentisch jüdisch für Italien vermittelt. Er selbst, der sephardischen Kultur zugehörig, lernte erst als Erwachsener überlebende osteuropäische Juden kennen.

Die überwältigende Resonanz beim Publikum korreliert mit dem real vorhandenen Vakuum. Sein Jiddisch ist verstümmelt - so, als ob ein jiddischer Muttersprachler Italienisch zu sprechen versucht. Der Jude als Fremder, Nicht-Zugehöriger und Exot. Die Realität der großenteils akkulturierten Juden Italiens war eine völlig andere. In Deutschland ist die Situation ähnlich. Doch Kulturveranstaltungen, in denen Beiträge von deutsch-jüdischen Künstlern zum Kulturleben thematisiert werden, haben vergleichsweise geringe Resonanz - wenn nicht gerade ein Jubiläum ansteht wie etwa der 100. Geburtstag des Komponisten der Dreigroschenoper, Kurt Weill.

Das Perfide an der Exotisierung von Juden ist, dass dadurch ausgeblendet wird, wie jüdische Kultur und lokale Mehrheitskultur sich wechselseitig beeinflusst haben und welche Beiträge die jüdische Kultur zur Ausformung regionaler Kulturtraditionen - sei es in Musik, Küche, Sprache etc. - geleistet hat. So trägt dieser Mechanismus - zumindest im mitteleuropäischen Raum - zur Aufrechterhaltung des Stereotyps vom Juden als Fremdem bei.

Mehrmals fragte ich in den letzten Monaten nichtjüdische Deutsche unterschiedlicher Altersgruppen, nachdem diese das Jüdische Museum in Berlin besucht hatten, was für sie neu gewesen sei. Über 90 Prozent antworteten spontan, sie hätten nicht gewusst, dass Juden schon so lange (seit dem 4. Jahrhundert) im deutschen Sprachraum leben. Die scheinbare Vitalität der virtuellen jüdischen Welten führt dazu, dass Außenstehende Fiktion und Realität nur schwer oder nicht mehr unterscheiden können. Dies ist besonders in osteuropäischen Ländern zu beobachten, in denen vor der Shoah große jüdische Gemeinden bestanden.

Nicht nur in Prag und Kazimierz werden in »jüdischen« Cafés Lesungen abgehalten, jiddische Theaterstücke zur Aufführung oder »jüdische« Speisen und Gerichte unters Volk gebracht, ohne dass real auch nur ein einziger Jude anwesend wäre. Seit dem Erfolg des Kinofilms »Schindlers Liste« boomen auch die Touren zu »authentischen Orten«, die in Wirklichkeit meist die Drehorte sind. Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen ineinander, heben sich gegenseitig auf.

Eine mentale Landschaft wird inszeniert, eine Art emotionale Historiographie, an die jeder seine Bedürfnisse, Gefühle und Projektionen herantragen kann, wird betrieben. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - wenn sie nicht auf der Ebene der Identifikation mit den Opfern stattfindet - oder Begegnung mit Juden und jüdischem Leben heute erübrigen sich großenteils, sind möglicherweise unerwünscht, weil sie ambivalent besetzt sind.

Für große Teile der nichtjüdischen Zuhörerschaft in Deutschland ist Klezmer ein Ausdruck ihrer Bemühungen, mit der Vergangenheit klar zukommen. Die nicht jüdischen Interpreten spielen dabei die Rolle eines willkommenen Puffers, was die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft der Zuhörenden zeigt, mit den in ihrer Umgebung lebenden Juden in Kontakt zu kommen.

Und immer wieder geistert der Topos der »Heilung« durch die Medien. Da ist die Rede von der »heilenden Wirkung der Klezmer-Musik«, um deretwillen man solche Konzerte besuche. Der Redakteur des Berliner Stadtmagazins zitty legt der irisch-amerikanischen Entertainerin Gayle Tufts auf die Frage nach ihrem Lieblingscafé, das von einer Amerikanerin geführt wird, die Antwort in den Mund: »Dass es hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zum ehemaligen jüdischen Viertel Berlins, auch Bagels, das typisch jüdische Gebäck, das man überall in New York kaufen kann, gibt, das ist schon fast ein Zeichen von Heilung.«

Kurz nach der Fertigstellung des Jüdischen Museums in Berlin gab eine der renommierten örtlichen Tageszeitungen der Hoffnung Ausdruck, das Gebäude möge seine heilende Wirkung inmitten der Brache der Stadtlandschaft zur Entfaltung bringen. Die Straßen rund um das Museum sind heute noch sichtbar von den Zerstörungen des Krieges und der Stadtplanung der Nachkriegszeit geprägt. Die Mechanismen des Jewish Disneyland sind Romantisierung, Exotisierung, Folklorisierung und Historisierung des Jüdischen.

Als Folge davon wird reales Jüdisches unsichtbar gemacht. Die Fiktionen des Jewish Disneyland werden zunehmend zum Maßstab auch für die Medien und das, was dort als »jüdische Kultur« präsentiert wird. Da können reale Juden - soweit sie noch oder wieder vorhanden sind - oft nicht mithalten. Sie werden zur Enttäuschung.

Ein Beispiel dafür ist der Umgang der deutschen Medien mit dem Magazin Golem (hagalil.com/golem/), dessen erste Nummer im Dezember 1999 erschien. Eigentlich - so möchte man meinen - müsste ein europäisch-jüdisches Magazin, das in der Stadt erscheint, von der einst die Vernichtung der europäischen Juden ausging, dort eine besondere Aufmerksamkeit finden und eine entsprechende Resonanz nach sich ziehen. Im Gegensatz zum positiven überregionalen und internationalen Medienecho waren die Reaktionen der Berliner Medien jedoch sehr zurückhaltend.

Nun könnte man fragen, ob es nicht egal sei, wenn sich Nichtjuden ihre eigenen jüdischen Welten zusammenbasteln. Muss oder soll Juden das überhaupt etwas angehen? Sie könnten doch versuchen, das zu ignorieren. Aber erst die Zukunft kann deutlich machen, wie sich diese »jüdischen« Inszenierungen auf die Befindlichkeit von Juden auswirken und langfristig die Selbst- und Fremdwahrnehmung prägen werden. Schon 1999 fragte Diana Pinto im Golem: »Wie sollen Juden an die in Europa entstehenden 'jüdischen Räume' herangehen und intervenieren, die in steigendem Maße von Nichtjuden initiiert, bevölkert und sogar verwaltet werden?« Diese Fragestellung bleibt unvermindert aktuell.

Siehe auch: www.berlin-judentum.de