Berlin im Jahr 2020

In der Stadt der letzten Dinge

Der Wecker piept unerbittlich. Aufstehen. Doch wozu eigentlich? Kratt könnte auch liegen bleiben. Geht aber nicht. Der Job muss erledigt werden. Wenn du nicht Ende der Woche deine ausstehende Miete zahlst, schmeißen die dich glatt raus. Also hoch. Scheiße, schon wieder Regen.

Kratt geht zur Zimmertür und entriegelt die drei Schlösser. Nennt sich zwar WG, aber vertrauen tut hier keiner niemandem. Mit dem Kulturbeutel ins Bad. Er kann sich Zeit nehmen. Die anderen sind noch oder schon wieder unterwegs. Arbeiten. André beim Sicherheitsdienst im Diplomatenviertel, Klaus fährt Lkw, immer hin und her zwischen Magdeburg und Berlin. Fünfeinhalb Stunden pro Tour, wenn's gut geht. Zwei Touren am Tag. Er schließt sein Zimmer sorgfältig ab. 9,3 Quadratmeter Individualismus. Sein Reich.

Kratt tritt auf die Straße und geht zur S-Bahn. Mal sehen, wann die fährt. Vielleicht heute gar nicht. Schon von weitem sieht er, dass der Bahnsteig völlig überfüllt ist. Also fährt sie doch, aber wieder unregelmäßig. Was soll's, die Zeit hatte er sowieso eingeplant.

Scheißjob. Autos im Nobelhotel waschen, im Akkord. Und dann noch im Schichtdienst. Aber besser als gar nichts. Erst mal zwei Wochen Arbeit. Dann sehen wir weiter. Vielleicht stellen sie ihn ja für weitere zwei Wochen ein.

Kratt ist fünfzig. Er hat ständig wechselnde Jobs. Wann haben sie das Arbeitsamt eigentlich komplett abgeschafft? Nachdem sie den Haushalt so zusammengestrichen haben, dass alles sowieso nur noch Fassade war? Ach ja, vor fünf Jahren, 2015, nach dem Selbstmordattentat in der Jobbörse.

Rein in die überfüllte S-Bahn. Ungemütlich, aber warm. Gut riechen tut es nicht. Die Bahn rappelt und hält manchmal mitten auf der Strecke. Alles privatisiert, super Preise, unsichere Verbindungen. Nach 35 Minuten steigt er aus und geht zu Fuß weiter. Noch mal 'ne halbe Stunde laufen.

Geschrei kommt ihm entgegen. Wieder Zoff im Podewil. Weiß zwar keiner mehr, warum das so heißt, aber alle nennen es noch so. Ein besetztes Haus braucht halt einen Namen. Kratt war hier in seiner Jugend auf Diskussionen, Lesungen, Ausstellungen, Konzerten. Aber scheißegal. Wie bei den anderen Sachen, so auch hier: Erst geschlossen, dann verkommen, dann besetzt, teilweise wieder hergerichtet. Wie hieß noch gleich der andere Schuppen, der vor ein paar Monaten eingekracht ist? Guggenheim? Nee, Bethanien, das war's.

Ach Kratt, denkt Kratt, es ist erst halb sieben. Da vorne ist das Hotel, und du hast noch eine Viertelstunde Zeit. Also gönnt er sich ein bisschen Luxus und raucht eine Zigarette. Scheißleben. Zu viel Arbeit, zu wenig Geld. Wie machen die Leute das heute bloß? Ohne Kitas, ohne Kindergärten. Nur noch sieben Jahre Schule. Kratt ist froh, dass er keine Familie hat. Aber er bedauert, dass ihm die kriminelle Energie fehlt.

Aber mit 50 ist das nichts mehr. Und der Körper ist auch hin. Zu viel gefeiert in den fetten Jahren. Er würde sich gerne krankschreiben lassen. Aber die Ärzte würden ihn nur auslachen. Er müsste sich ja eigentlich das Knie operieren lassen. So viel Kohle kann er aber gar nicht ranschaffen mit Limousinenpolieren.

Also ab zur Arbeit, vielleicht gibt es ein bisschen Trinkgeld. Danach geht er vielleicht noch auf die Museumsinsel, auf den Schwarzmarkt, dort soll irgendwer Selbstgebrannten verticken. Vielleicht kann er sich dann wenigstens nicht mehr daran erinnern, wie es war, als erst die Hauptstadt und dann der Staat Pleite gingen.