Staatlicher Rassismus in der Türkei

Korsisch für Kurden

Auch nach der Auflösung der PKK geht die Diskriminierung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei weiter.

Die Autofahrer, die am vergangenen Donnerstag in der abendlichen Rushhour auf den Stadtautobahnen an den Armenvierteln Istanbuls vorbeifuhren, fluchten. Im zäh fließenden Verkehr konnten sie der unsichtbaren Tränengaswolke nicht ausweichen. Diejenigen, die mit tränenden Augen ihr Auto verließen, bekamen Hustenkrämpfe, ebenso wie die vor der Polizei fliehenden Kurden, die kreuz und quer über die Straßen liefen.

Was sich die Istanbuler Einsatzkommandos von den Tränengasbomben gegen ein paar fliehende Demonstranten versprachen, verstand wohl keiner der Autofahrer. Die meisten wussten wahrscheinlich gar nicht, dass an diesem Tag Newroz, das kurdische Frühlingsfest, gefeiert wurde. Seit einigen Jahren war es am 21. März in Istanbul ruhig geblieben, nur im kurdischen Südosten entzündete die Bevölkerung regelmäßig Feuer. Newroz hatte sich in den letzten zwanzig Jahren zu einem Symbol des kurdischen Widerstandes gegen die türkische Zwangsassimilation entwickelt.

In diesem Jahr blieb es ruhig auf den Plätzen von Diyarbakir, Hakkari, Van und Mardin, denn in den meisten Städten waren die Newroz-Feierlichkeiten erlaubt worden. In Istanbul und dem südanatolischen Mersin verhaftete die Polizei dagegen Hunderte von Menschen. In Mersin starben zwei Kurden, die von einem Panzer an eine Moscheewand gedrückt wurden. Hier waren alle Feiern verboten worden. Als die Menschen trotzdem auf die Straßen kamen und Feuer entfachten, setzte die Polizei Panzer, Tränengas, Handgranaten und Plastikgeschosse ein.

In Istanbul sprang der Gouverneur Erol Çakir fröhlich über das Feuer auf der offiziellen Feier in der Altstadt, während gleichzeitig Tausendschaften der Polizei die Vororte abriegelten und überall Tränengasbomben warfen, wo Menschen versuchten, Feuer zu entzünden. Unabhängig zu feiern, war in ganz Istanbul verboten worden. 1993 erklärte die Regierung Newroz zu einem offiziellen türkischen Friedens- und Frühlingsfest. Das war eine Reaktion darauf, dass im Vorjahr die Newroz-Feiern eskaliert waren und der ganze Südosten der Türkei, als Zeichen des Widerstandes, in Flammen zu stehen schien.

Den Frühlingsanfang in diesem Jahr empfinden jedoch viele als äußerst düster. Der US-amerikanische Präsident George Bush lobte Ankara vor einer Woche zwar als vorbildlich für den Nahen Osten, aber das bezog sich wohl eher auf den türkischen Militäreinsatz in Afghanistan als auf die Menschenrechte. Weiterhin werden in der Türkei Minderheiten unterdrückt und Zensur wird ausgeübt.

Nach einer entsprechenden Änderung der türkischen Verfassung beantragten etwa 15 000 Schüler, Studenten und deren Eltern, Kurdisch als Wahlfach an den Lehranstalten anzubieten. (Jungle World 06/02) Auch der Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer regte an, ein »korsisches Modell« einzuführen und kurdische Sendungen auf dem staatlichen Sender zu erlauben und kurdischen Unterricht an Privatschulen zuzulassen. Das Innenministerium verschickte allerdings umgehend eine Erklärung an alle Gouverneure der verschiedenen Provinzen, in der es hieß, dass die Forderung nach kurdischem Unterricht eine Initiative der aufgelösten PKK sei. Auf diese Taktik, die Türkei mit hinterhältigen Friedens- und Demokratisierungsangeboten doch noch zu teilen, müsse man mit angemessener Härte reagieren, erklärte das Ministerium. Die Anträge für Kurdisch als Wahlfach landeten daher alle beim Staatssicherheitsgericht, und die Folgen bekamen die Antragsteller bald zu spüren: 2 000 Verdächtige wurden festgenommen.

Am härtesten gingen die Behörden an der renommierten, aber auch für ihre politisierte Studentenschaft bekannten Technischen Universität Istanbul gegen die Studenten vor. 30 wurden von der Lehranstalt gewiesen und verloren die Berechtigung, in der Türkei zu studieren, 38 erhielten für zwei Semester Hausverbot. Die Begründung für die unterschiedlichen Strafen lautete, die einen hätten eine Terrororganisation unterstützt, die anderen hätten das Volk zum Separatismus aufgehetzt.

An der Kampagne beteiligten sich allerdings auch viele türkische Studenten. S.Ö. kam aus dem mittelanatolischen Tokat nach Istanbul. Auch er hat die Studienberechtigung verloren. Er studierte Literatur und beteiligte sich an der Kampagne, weil er die Vielfalt der Sprachen liebt. Die Hochschulleitung hielt diese Begründung für undurchsichtig und unglaubwürdig. Ähnlich erging es Ö.D. Er war aus Van nach Istanbul gekommen und hätte nur noch ein Semester studieren müssen, um sein Wirtschaftswissenschaftsdiplom zu erwerben. Jetzt hat er ein Jahr Zwangspause.

Ö.D. lernte erst in der Grundschule Türkisch und hatte deshalb lange Schwierigkeiten. Trotzdem bestand er die Universitätsaufnahmeprüfung. Er weiß, dass das nicht jeder schaffen kann und es viel vernünftiger wäre, gegen die Sprachbarrieren anzugehen, als sie zu verleugnen. Ö.D. wuchs in einer Zeit auf, als sich die PKK und das türkische Militär noch heftig bekämpften und es daher oft keine Lehrer an den örtlichen Schulen gab. Aus diesem Grund haben viele kurdische Schüler der jüngeren Generation Sprachmängel und Identitätsschwierigkeiten.

Es gibt noch viele weitere aktuelle Beispiele dafür, dass sich an der türkischen Minderheitenpolitik nichts Grundsätzliches geändert hat. So ließ R.S., ein in Diyarbakir ansässiger Lehrer, im Dezember die Einladungskarten zu seiner Hochzeitsfeier mit einem kurdischen Liebesgedicht bedrucken. Er wurde daraufhin sofort vom Dienst suspendiert und festgenommen. Die Staatsanwaltschaft eröffnete gegen ihn ein Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. In der Anklageschrift heißt es, R.C. befolge die auf dem letzten PKK-Kongress beschlossene Anweisung, die kurdische Sprache weiter zu verbreiten.

Der Lokalsender Gün-TV erhielt bereits im Februar ein einjähriges Sendeverbot, weil er ein aus dem 18. Jahrhundert stammendes Volkslied auf Kurdisch gesendet hatte. Und ein Film der Regisseurin Handan Ipekci, den das türkische Kulturministerium mitfinanziert hatte und der in der Türkei einen Preis erhielt, wurde verboten. Der Grund dafür war, dass der Film im Ausland »Hejar« heißt, so wie die Hauptperson, ein kleines kurdisches Mädchen. Außerdem laufen im Südosten der Türkei unzählige Zivilgerichtsverfahren gegen Familien, die ihren Kindern kurdische Namen geben.