Debatte über Imperialismus

Radikale Kurzschlüsse

In den Imperialismustheorien treffen sich Ökonomismus und moralisierende Kritik. Sie taugen nicht dazu, den weltweiten Kapitalismus zu analysieren.

In einer Zeit, da der Kapitalismus als Zivilgesellschaft verharmlost wird und Kriege als Interventionen zur Durchsetzung der Menschenrechte bezeichnet werden, mag die Rede vom »Imperialismus« als besonders radikal erscheinen. In der Tat haben sich in den neunziger Jahren viele ehemalige Linke, die inzwischen die Segnungen des Marktes entdeckt haben, vom Begriff des Imperialismus verabschiedet. Allerdings lässt sich nicht im Umkehrschluss folgern, dass das Festhalten an den Imperialismustheorien eine radikale Kritik des Bestehenden garantiert.

Meistens soll der Begriff des Imperialismus deutlich machen, dass die Politik der führenden kapitalistischen Länder nicht der Verbesserung der Welt, sondern der Durchsetzung von Kapitalinteressen dient. Bei jeder militärischen Intervention einer »imperialistischen Macht« wird von den Imperialismustheoretikern nach den Rohstoffquellen oder den Routen für zukünftige Pipelines gesucht, um die es »eigentlich« gehe.

Bei Lenin, dessen Imperialismustheorie die Kombination des sozialdemokratischen Vulgärmarxismus seiner Zeit mit der bürgerlichen Imperialismuskritik von John A. Hobson war, folgte diese Auffassung aus der Vorstellung, der »Konkurrenzkapitalismus« sei vom »Monopolkapitalismus« abgelöst worden. Nicht mehr die Konkurrenz und das (unpersönliche) Wertgesetz, sondern die bewusste Herrschaft der »Finanzoligarchie«, der Vertreter des Finanzkapitals, d.h. der Verbindung von großem Industrie- und Bankkapital, charakterisiere den gegenwärtigen Kapitalismus. Und diese »Finanzoligarchie« habe sich auch gleich noch den Staat unterworfen, staatliche Politik nach außen diene lediglich der Absicherung des Kapitalexports und der Kontrolle von Rohstoffquellen.

Dagegen wurde schon oft argumentiert, dass sich der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts keineswegs als »Herrschaft der Monopole« beschreiben lässt. Die zunehmende Kapitalkonzentration, der »empirische Beleg« für die Monopolisierung, ist nicht gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Konkurrenz und mit der persönlichen Herrschaft weniger Monopolisten. Deshalb lässt sich auch die ökonomistische Staatsauffassung von Hobson und Lenin, denen der Staat in erster Linie als Instrument zur Durchsetzung der Interessen der Finanzoligarchie galt, nicht mehr aufrechterhalten. Ökonomistische Staats- und Politikauffassungen sind in der Linken jedoch auch jenseits leninistischer Strömungen weit verbreitet, so dass diese Seite der Imperialismustheorie auf weniger Kritik stieß.

Auf Hobson geht auch ein anderer Aspekt der Imperialismustheorie zurück: die moralische Kritik an der Ausbeutung fremder Völker (und nicht nur des eigenen) durch den Imperialismus. Die Rede vom »parasitären« Charakter des Imperialismus, die bei Lenin eine wichtige Rolle spielt, stammt wörtlich von Hobson. Für einen bürgerlichen Imperialismuskritiker, der den schlechten, imperialistischen Kapitalismus durch einen besseren, reformierten ersetzen will, ist eine derartige Auffassung konsequent, aber kaum für jemanden, der eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus formulieren will.

In verschiedenen Gestalten hat sich diese moralisierende Kritik in den neueren Versionen der Imperialismustheorie erhalten, auch wenn nicht mehr vom »Parasitismus« die Rede ist. Und wie schon bei Lenin wurde im »nationalen«, auf einen eigenen Staat zielenden Widerstand der vom Imperialismus ausgebeuteten Länder ein von vornherein fortschrittliches, weil antiimperialistisches Projekt gesehen. Zwar war dieser Widerstand in vielen Ländern verständlich, doch das heißt nicht, dass der Kampf für einen souveränen bürgerlichen Staat irgendetwas mit Sozialismus zu tun hätte oder gar das Funktionieren des kapitalistischen Weltsystems unterminierte, was sich etwa die Studentenbewegung einst von den antiimperialistischen Bewegungen im Trikont versprochen hatte.

Mit ihrer Verbindung von Ökonomismus und moralisierender Kritik waren Imperialismustheorien schon früher kein tragfähiges Mittel zur Analyse des kapitalistischen Weltsystems, heute sind sie es auch nicht. Dass sich rechtsextreme Gruppen heute als »Antiimperialisten« sehen und den Kampf »unterdrückter Völker« bejubeln, ist nicht einfach nur ein Diebstahl von Begriffen. Auch wenn sich linker und rechter »Antiimperialismus« nicht gleichsetzen lassen, ist die Existenz eines rechten Antiimperialismus zumindest ein Indiz für grundlegende Defizite der Imperialismustheorien.

Wird jedoch versucht, jenseits ökonomistischer Verkürzungen vom Imperialismus zu sprechen, dann bleibt meistens unklar, was mit diesem Begriff analytisch überhaupt noch gemeint sein soll. Konsequenter wäre es, diesen mit Vulgärmarxismus, Ökonomismus und Moral getränkten Zopf des Traditionsmarxismus abzuschneiden.

Damit soll nicht behauptet werden, dass Herrschaftsverhältnisse und ökonomische Abhängigkeiten auf internationaler Ebene keine Rolle mehr spielten, wie es etwa die Rede von einer entstehenden weltweiten Zivilgesellschaft, in der schließlich alles dem »Recht« unterworfen sei, nahe legt. Solchen affirmativen Konzeptionen durchaus verwandt ist auch die Überwindung der Imperialismustheorie durch Antonio Negri und Michael Hardt, und zwar ihre Vorstellung, die verschiedenen konkurrierenden Imperialismen, welche durch die klassischen Imperialismustheorien zutreffend beschrieben worden seien, seien durch ein einziges Empire ersetzt worden, das nicht nur kein Außen mehr kennt, sondern auch keinen Ort der Macht. Der Ökonomismus der Imperialismustheorien wird damit nicht wirklich kritisiert, es wird lediglich festgestellt, dass sich die früheren, angeblich klaren Verhältnisse aufgelöst haben.

Auch in einer nicht ökonomistischen Perspektive ist hervorzuheben, dass der bürgerliche Staat als »ideeller Gesamtkapitalist« die Voraussetzungen kapitalistischer Akkumulation einschließlich der sozialstaatlich vermittelten Existenz einer Klasse, die ausgebeutet werden kann, zu sichern hat - nicht nur als Funktionsbedingung des Kapitalismus, sondern als Voraussetzung der eigenen ökonomischen Existenz des Staates, die an ausreichende Steuereinnahmen, begrenzte Sozialausgaben und ein »stabiles« Geld gebunden ist.

Allerdings besteht diese staatliche Sicherung einer gelingenden Akkumulation nicht in der politischen Wahrnehmung eines bereits fertig vorliegenden kapitalistischen Klasseninteresses. Was zu dieser Sicherung alles nötig ist, wie deren Vor- und Nachteile verteilt werden, muss überhaupt erst innerhalb der verschiedenen staatlichen Institutionen und der »bürgerlichen Öffentlichkeit« ermittelt und zu einem gesellschaftlichen Konsens gemacht werden. Dieser Konsens betrifft nicht nur die Zustimmung der großen Kapitalfraktionen zur staatlichen Politik, er muss immer auch die Zustimmung der subalternen Klassen zu den ihnen aufgebürdeten Lasten einschließen. Dabei ist die Herstellung dieses Konsenses aber kein bewusstes Projekt einer alles durchschauenden Gruppe von Politikern, sondern findet selbst noch innerhalb der Fetischformen kapitalistischer Vergesellschaftung, der »Religion des Alltagslebens« (Marx), statt.

Auf internationaler Ebene haben wir es nicht einfach mit einem Zusammenstoß dieser Staaten und der von ihnen verfolgten Interessen zu tun. Nicht nur sind die staatlichen Beziehungen inzwischen über eine Vielzahl internationaler Institutionen vermittelt, auch die zunehmende Internationalisierung des Kapitals, die wiederum neue, nichtstaatliche Akteure hervorbringt, legt den einzelnen Nationalstaaten spezifische Restriktionen auf und wird andererseits aber auch gerade durch deren Politik gefördert. In diesem komplexen Geflecht vervielfältigen sich die Gegensätze und die Ebenen, auf denen sie ausgetragen werden. Staaten der Nato, die Krieg gegen einen Dritten führen, verfolgen vielleicht im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) höchst unterschiedliche Interessen, die zu einem Handelskrieg eskalieren können.

Staatliche Macht verschwindet jedoch nicht und wird auch nicht nivelliert. Nach wie vor können wir von einer US-amerikanischen Hegemonie sprechen, wobei Hegemonie mehr meint, als nur streng definierte »eigene« Interessen durchzusetzen. Es geht stets um eine »Ordnung« des kapitalistischen Weltsystems, von der auch andere (als Lohn für die Akzeptanz der Hegemonialmacht) mehr oder weniger profitieren. Allerdings zeichnet sich mit der Formierung der EU in Richtung eines eigenen Staatsgebildes ab, dass den USA langfristig ein nicht nur ökonomischer, sondern auch politischer Konkurrent erwachsen könnte.

Für die einzelnen Staaten ist es auf der internationalen Ebene zunächst einmal wichtig, eigene Handlungsmöglichkeiten zu schaffen und zu erhalten - was man etwa an den zum Teil krampfhaften Versuchen des vereinigten Deutschlands beobachten kann, sich an militärischen Interventionen, wie in Somalia, im Kosovo oder in Afghanistan, zu beteiligen. Die »souveräne« Verwendung militärischer Macht soll sowohl gegenüber den misstrauischen Verbündeten als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung als Normalität durchgesetzt werden.

Einfluß nehmen zu können und Dominanz auszuüben sind notwendige Voraussetzungen, um auf der weltpolitischen Ebene mitspielen zu können. Insofern lassen sich viele politische und militärische Aktionen, die auf die Sicherung von Einflußsphären und die Ausschaltung möglicher Gegner gerichtet sind, gerade nicht auf die Verfolgung bestimmter Kapitalinteressen reduzieren - auch wenn solche Interessen im Verlaufe dieser Aktionen gerne bedient werden. Wenn man im Fall eines militärischen Konflikts nach Rohstoffquellen und Pipelines sucht, wird man zwar immer welche finden, nur ob es sich dabei tatsächlich um die entscheidenden Ursachen handelt, wie die ökonomistischen Kurzschlüsse der Imperialismustheorie behaupten, ist damit noch lange nicht ausgemacht.