Nach dem Amoklauf von Erfurt

Druck gegen Gewalt

Statt über die gesellschaftlichen Ursachen des Amoklaufs in Erfurt zu sprechen, überschlagen sich die Politiker mit Forderungen nach Gesetzesverschärfungen.

Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.«

1929 schrieb der Surrealist André Breton diese Zeilen. Nicht, weil er damit zum Massenmord aufrufen wollte, sondern weil er, der als Sanitätsoffizier im Ersten Weltkrieg gedient hatte, mit eigenen Augen gesehen hatte, wie die herrschenden Verhältnisse Massenmord produzierten, wie eine Gesellschaft, die vorgeblich auf intellektueller Vernunft und wissenschaftlichem Fortschrift aufgebaut war, selbst Massaker anrichtete und stetig neues »Menschenmaterial« für diese Massaker hervorbrachte.

An den Verhältnissen hat sich bis heute nicht wirklich etwas geändert. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus hat sich die Situation in Deutschland seit 1990 deutlich verschärft. Krieg ist wieder ein legitimes Mittel der Außenpolitik geworden, und im Inneren wird die Massenarbeitslosigkeit mit dem Abbau der sozialen Sicherungssysteme sowie dem Ausbau des Polizeistaates beantwortet. Und während es früher noch die Hoffnung gab, dass eine bessere Welt vielleicht doch irgendwann einmal kommen werde, ist diese Aussicht längst dahin. Übrig geblieben ist die ach so freie Marktwirtschaft, deren durchaus verlockender Leitspruch lautet: »Wenn du willst, kannst du es schaffen.« Nur wird der zweite Teil dieses Satzes gerne vergessen: »Und wenn du es nicht schaffst, bist du eben selber schuld.«

Nicht mehr zur willigen Masse gehören, mit der permanenten Demütigung aufräumen, nicht mehr »den Wanst in Schusshöhe tragen« - Robert Steinhäuser, der Amokschütze von Erfurt, hat höchstwahrscheinlich nie André Breton gelesen. Und natürlich ist seine Tat weder revolutionär noch muss man dafür Verständnis oder gar Sympathie aufbringen. Aber ist sie deshalb vollkommen unverständlich?

Der gesellschaftlich akzeptierte Weg, einmal jemand zu werden, nach oben zu kommen, war Steinhäuser seit seinem Rausschmiss aus der Schule versperrt. Also wählte er einen anderen Weg, der Welt im Gedächtnis zu bleiben, indem er für eine kurze Zeit alle Konventionen über Bord warf, sich über alle gesellschaftlichen Regeln hinwegsetzte.

»Eine Gesellschaft, in der so viel Aggressivität vorhanden ist, in der Druck auf die Schüler ausgeübt wird, in der der Leistungsgedanke überhand nimmt, in der empfinden manche Schülerinnen und Schüler Schule als Kampf oder Bedrohung«, hat auch Innenminister Otto Schily angesichts der Tat von Erfurt festgestellt. In eigener Sache hat Schily freilich vorgesorgt und seine Kinder auf die Waldorfschule geschickt, ins Privatschulreservat für Besserverdienende. Ansonsten ist ein Innenminister bekanntlich vor allem dazu da, selbst Druck zu erzeugen.

Denn solange Verhältnisse, in denen jeder entsprechend seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen leben kann, weiter entfernt sind denn je, kann sich die Gesellschaft gegen ihre eigenen Auswüchse nur durch Repression verteidigen. Kein Wunder also, dass sich nach dem Amoklauf in der vergangenen Woche die Politiker mit Forderungen nach Gesetzesverschärfungen überschlugen, von der Videoüberwachung in den Schulen bis hin zum Heraufsetzen der Volljährigkeit auf 21 Jahre. Schließlich ist auch noch Wahlkampf. Und weil die Gesellschaft nicht dafür verantwortlich sein kann, dass an ihr ab und an mal jemand verrückt wird, sucht man sich andere Schuldige: Videospiele, Fernsehen oder das Internet.

Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber, hielten sich indes vornehm zurück und schickten lieber ihre Scharfmacher vor. Den Anfang machte Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU), den Stoiber im Falle eines Wahlsieges bei der Bundestagswahl zum Nachfolger Otto Schilys machen will. Beckstein warf der Bundesregierung vor, »in skandalöser Weise untätig gewesen zu sein«, weil bislang kein Gesetz zum Verbot gewaltverherrlichender Video- und Computerspiele verabschiedet worden sei. Schily konterte prompt und warf Beckstein vor, ein entsprechendes Gesetz bislang blockiert zu haben.

Grundsätzlich aber ist man sich einig. Auch Schily will künftig »mehr Durchsuchungen, Razzien und Beschlagnahmungen«. Nicht nur Verbreitung und Verkauf von »Gewaltvideos« sollen strafbar sein, sondern bereits deren Herstellung.

Einig sind sich Opposition und Regierung auch darin, den privaten Waffenbesitz einzuschränken. Erst ab 21 (Schily) bzw. ab 25 Jahren (Beckstein) soll man in Zukunft großkalibrige Waffen kaufen dürfen. Das ist grundsätzlich nicht verkehrt, denn dass zwischen der Verbreitung und Verfügbarkeit von Waffen und ihrer Anwendung ein direkter Zusammenhang besteht, liegt auf der Hand. Warum aber sollen nur Jugendliche keine mehr bekommen? Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht ein frustrierter Ehemann, der seinen Job verliert und die nächste Rate für die Doppelhaushälfte nicht mehr bezahlen kann, seine Familie abschlachtet und sich anschließend selbst richtet.

Auch in den Tausenden deutschen Schützenvereinen - in zweien davon lernte auch der Todesschütze von Erfurt sein Handwerk - wird man in Zukunft weiterschießen dürfen: 2,3 Millionen registrierte Waffenbesitzer sind schlicht eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Wählern. Beckstein warf sich besonders für die Schützen in die Bresche: »Seriöse Vereine kanalisieren das Bedürfnis Jugendlicher nach dem Umgang mit einer Waffe und filtern Ungeeignete eher heraus«, sagte er der Süddeutschen Zeitung.

Und er verteidigte auch gleich noch das neue Waffengesetz, das der Bundestag just am Tag des Massakers verabschiedet hatte und welches zulässt, dass bereits Zehnjährige an der Waffe ausgebildet werden dürfen: »Die lernen in den Vereinen von klein auf, dass nie auf Menschen gezielt werden darf und sind der Vereinsdisziplin unterworfen.«

Auch Beckstein ist der Vereinsdisziplin unterworfen, und zwar der der CSU, deshalb muss er so etwas sagen. Schließlich ist sein Chef Stoiber selbst Ehrenleutnant der Gebirgsschützen seines Heimatortes Wolfratshausen. Die bayerischen Gebirgsschützen wiederum sind dafür bekannt, dass sie im Zweifelsfall durchaus wissen, worauf sie zielen müssen.

Aus ihren Reihen rekrutierten sich die Freikorps, die 1919 die Münchner Räterepublik niedergeschlagen haben. Als sich die Gebirgsschützen am vergangenen Wochenende zu ihrem alljährlichen Treffen versammelten, kniff Stoiber allerdings angesichts der aktuellen Diskussion und verzichtete auf seinen sonst üblichen Auftritt zwischen Gamsbärten und Vorderladern. Die Schützen werden trotzdem wissen, dass sie sich auf Stoiber verlassen können. Und umgekehrt.