Antisemitismus und Kritik an Israel

Feinde hier, Feinde dort

Die Kritik deutscher Politiker und Intellektueller an Israel wird stärker. Das bekommen auch die in Deutschland lebenden Juden zu spüren.

Heil Israel ... Sieg Heil ... ihr seid wahrhaftig auserwählt.« So kompakt kann sich gegenwärtig das antisemitische Ressentiment verbal entladen. Und so treffend zeigt es die Dimensionen des aktuellen Antisemitismus in Deutschland. Der Schreiber dieser Zeile hat sich die Juden in Deutschland ausgewählt, obwohl er vorgibt, es ginge ihm um Israel. Er meint, eine Politik zu kritisieren und bedient sich dabei einer traditionellen Figur des christlich motivierten Antisemitismus.

So wie er bedrohen und beschimpfen viele seit der Eskalation im Nahen Osten Juden und Jüdinnen in Deutschland. Die Jüdische Allgemeine veröffentlichte in ihrer letzten Ausgabe diesen und andere Briefe, die der Zentralrat der Juden in Deutschland in den vergangenen Wochen erhalten hat. Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats, wird als »williger Propagandahelfer der Hitler-Minikopie Sharon« beschimpft. Ein anderer Brief halluziniert eine »Ersatzregierung«, die die Juden seit Jahren mittels des Zentralrats in Deutschland herzustellen versuchten: »Sie mischen sich in Dinge ein, welche Sie überhaupt nichts angehen und erteilen uns in ungezogener Form Ratschläge, welche wir von Ihnen nicht hören wollen.« Der aggressive Ton ist unüberhörbar und die hartnäckige These eines scheinbar unüberwindlichen Gegensatzes zwischen Juden und Deutschen wird weiter aufrechterhalten.

Weltweit muss man zurzeit die größte antisemitische Welle seit 1945 beobachten, und auch in Deutschland hat der Antisemitismus »ein Ausmaß erreicht, das es in dieser Form in der Geschichte der BRD noch nicht gegeben hat«, warnte Paul Spiegel in der vergangenen Woche.

Auf offener Straße werden Menschen tätlich angegriffen. Sie werden verprügelt, weil sie als Juden erkennbar sind, wie die zwei jungen Orthodoxen auf dem Berliner Kurfürstendamm am Ostersonntag. Oder sie werden zum Hassobjekt, weil sie ihre Solidarität mit Israel bekunden, wie ein 75jähriger Mann, der nach einer Kundgebung in Frankfurt verprügelt wurde. Doch Karl Lamers, der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, glaubt nicht, dass es in Deutschland einen latenten Antisemitismus gibt.

Bei der Großdemonstration »Palästina muss leben!« Mitte April in Berlin zeigten die Protestierenden quer durch den Demonstrationszug Transparente und Schilder mit Aufschriften wie »Stoppt Sharons Endlösung«, »Der Geist von Auschwitz schwebt über Palästina« oder »Stoppt den israelischen Holocaust in Palästina«. Doch der antisemitische Geist dieser Demonstration wurde in der Berichterstattung unterschlagen. Auf eine Synagoge in Berlin wurde ein Anschlag verübt. Doch den meisten Medien war dies allenfalls eine Kurzmeldung wert. Es blieb dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Alexander Brenner, vorbehalten, auf den Zusammenhang zwischen diesem Anschlag und anderen Taten der jüngsten Vergangenheit hinzuweisen.

Als am 9. April, dem jüdischen Holocaust-Gedenktag Yom Hashoah, in Berlin die Namen der 56 000 aus der Stadt deportierten und ermordeten Juden und Jüdinnen verlesen wurden, zeigten Zwischenrufe, wie eng die Situation im Nahen Osten mit der Situation in Deutschland verwoben wird. Es war unmöglich, der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, ohne dass der symbolische Akt durch Aufforderungen, auch Namen palästinensischer Opfer zu verlesen, gestört wurde.

Zu Recht stellte Paul Spiegel fest, dass »die Seriosität der Diskussion über den Konflikt im Nahen Osten Gradmesser für das Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Deutschland ist. Jede Polemisierung der Debatte zieht eine antijüdische Stimmung nach sich.« Eine entsprechende Sensibilität in der deutschen Öffentlichkeit sucht man jedoch vergeblich. Es wird zusammengebracht, was nicht zusammengehört und auseinandergerissen, was sich nicht trennen lässt.

Die vergangenen Wochen haben deutlich gezeigt, dass - nicht nur in Deutschland - die »Kritik an Israel« oftmals als Vehikel für die offene Artikulation des antisemitischen Ressentiments dient. »Unter dem Deckmantel des Antizionismus tritt ein neuer Antisemitismus auf, der glaubt, salonfähig zu sein, da er sich vermeintlich nicht gegen die Juden richtet. Dieser Antisemitismus wird mit jedem Tag schamloser und direkter«, erklärt Michel Friedman, der Vize-Präsident des Zentralrats der Juden, gegenüber Jungle World. Eine Differenzierung zwischen Israelis und Juden finde nicht mehr statt, und dieses »konfuse, vermischte Feindbild ermöglicht neue Aggressionen gegen Juden«.

Zwar sind die Sicherheitsmaßnahmen in den jüdischen Einrichtungen in letzter Zeit drastisch verschärft worden, Schutz können sie letztlich aber nicht bieten. Friedman spricht von einer »berechtigten Angst in der Jüdischen Gemeinde, dass das Gewaltpotenzial weiter ansteigt«.

Die unzähligen Analogien zwischen Israel und dem nationalsozialistischen Deutschland, die in den vergangenen Wochen Politiker quer durch alle bürgerlichen Parteien herstellten, können als Legitimation für Übergriffe auf und Beschimpfungen von Juden und Jüdinnen interpretiert werden.

Die Denunziation Israels, die als berechtigte Kritik an Israel verteidigt wird, ist dabei ein wahrhaft revisionistisches Meisterstück. Einerseits legitimiert sie gegenüber Israel eine äußerst fragwürdige moralische Überhöhung Deutschlands und der Deutschen, welche sich dadurch immer stärker als die aufrechten Hüter der Demokratie gerieren können.

Indem die deutschen Verbrechen mit der israelischen Politik gleichgesetzt werden, verlieren sie in der Wahrnehmung immer mehr an Schrecken. Andererseits wird die Instrumentalisierung des Holocaust dadurch fortgesetzt, dass ein militärisches Eingreifen Deutschlands in den Konflikt denkbar scheint.

Auffällig verzerrt hingegen wird in den Debatten der historische Hintergrund des Konflikts. Nicht nur der Antisemitismus an sich, seine Geschichte und seine aktuelle Variante, sondern vor allem auch das altbekannte Muster, die Juden müssten doch wegen des ihnen widerfahrenen Leids zu den besseren Menschen geworden sein, sind die zweifelhaften argumentativen Anknüpfungspunkte an die Geschichte.

Darüber hinaus durchdringen immer stärker Argumentationsfiguren des christlichen Antisemitismus die vermeintliche Analyse des Konflikts. Oskar Lafontaine räsonnierte bereits im vergangenen Jahr: »Wird es im Heiligen Land je Ruhe geben? Noch regiert das Alte Testament: Wer einen Menschen erschlägt, wird mit Tod bestraft ... Leben für Leben ... Auge um Auge ... Zahn um Zahn. Den Weg zum Frieden weist das Neue Testament. Dort steht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«

Lafontaine ist kein Einzelfall. Der Publizist Christoph Dieckmann schrieb in einem Aufsatz zum 9. November 2001 in der Zeit: »War nicht das Volk Israel, dem Gott seine Gebote offenbarte, unterwegs nach einem verheißenen Land, in dem aber längst andere Menschen lebten? Hält nicht Israel bis heute fremde Erde und büßt dafür mit Tod und tötet jeden Tag? Wir registrieren das ohne deutschen Kommentar, als gebiete unsere Geschichte uns zu schweigen, als rechtfertige Auschwitz Israels Palästinapolitik.«

Die Bezugnahme auf christliche Motive des Antisemitismus in der Beschreibung eines politischen und säkularen Gegenstands, nämlich der Politik Israels, rehabilitiert offen antisemitische Argumentationsmuster. Dies verstärkt nicht nur antisemitisch begründete Ressentiments gegen Israel, sondern gegen die Juden im Allgemeinen.

Die unterschiedlichen Aspekte der gegenwärtigen Diskussion in Deutschland finden ihre Entsprechung in einer Gesprächsrunde der SPD zur Selbstfindung der Nation. Bundeskanzler Gerhard Schröder wird gemeinsam mit dem Schriftsteller und Geschichtsrevisionisten Martin Walser am 8. Mai über das Thema »Nation, Patriotismus und demokratische Kultur in Deutschland 2002« sinnieren. Moderiert wird die Veranstaltung von Christoph Dieckmann.