Ökonomischer Aufschwung in Europa

Anschluss verpasst

Während in Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung stagniert, geht es in der restlichen EU wieder aufwärts.

Mit Europa geht es wieder aufwärts, die Konjunktur springt an, die Auftragszahlen für die Unternehmen steigen. Zweimal im Jahr werden die Gutachten für die künftige Entwicklung der wichtigsten Volkswirtschaften in der Europäischen Union präsentiert. Und im Gegensatz zu den düsteren Einschätzungen in der Vergangenheit fällt das Urteil dieses Mal optimistisch aus. Ende April stellte der EU-Wirtschaftskommissar Pedro Solbes die aktuellen Prognosen seiner Spezialisten vor. Demnach soll die Rezession Ende 2002 überwunden sein und das Wirtschaftswachstum in der EU im kommenden Jahr bereits 2,7 Prozent betragen.

Insgesamt wird sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) voraussichtlich um 1,4 Prozent steigern. Ein gutes Zeichen, denn neben der staatlichen Neuverschuldung und den Investitions- und Konsumquoten gilt vor allem die Entwicklung des BIP als Maßstab für gesellschaftlichen Wohlstand. Auch die sechs wichtigsten deutschen Wirtschaftsinstitute bestätigten in ihren Gutachten diese Zahlen.

Nur für die Bundesrepublik kommen sowohl die EU wie auch die deutschen Institute zu einem anderen Ergebnis. Hier wird die Wachstumsrate mit nur 0,8 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt liegen. Anschluss verpasst, lautet das trübe Fazit, Deutschland wird weiterhin die schlechtesten Wachstumszahlen in Europa aufweisen.

Auch in einem weiteren Punkt schneidet die Regierung in Berlin miserabel ab. Die Kommission erwartet ebenso wie die Wirtschaftsinstitute, dass das deutsche Haushaltsdefizit im kommenden Jahr voraussichtlich 2,8 Prozent betragen wird, es liegt damit so hoch wie in keinem anderen Land der EU. Erst vor wenigen Monaten hatte die Bundesregierung wegen des Haushaltsdefizits einen blauen Brief aus Brüssel erhalten. Deutschland müsse seine Ausgabenpolitik disziplinieren und die Stabilitätskriterien von Maastricht einhalten, lautete die eindringliche Botschaft der EU-Wirtschaftskommission. Eine Empfehlung, die in Berlin kaum für Freude sorgte. Schließlich kommt im Jahr der Bundestagswahl den Konjunkturdaten eine besondere Bedeutung zu.

Doch selbst wenn die Prognosen besser ausgefallen wären, ihre Aussagekraft ist in wesentlichen Punkten mehr als fraglich. So werden in den Gutachten für die meisten EU-Staaten zwar höhere Wachstumsraten vorausgesagt, gleichzeitig kommen sie aber zu dem Schluss, dass die Arbeitslosigkeit weiter zunehmen wird. Was für den gesamten europäischen Raum zutrifft, gilt im besonderen Maße für die Bundesrepublik. Seit Jahren klaffen Konjunktur und Beschäftigung auseinander.

Bei den Untersuchungen werden das wirtschaftliche Wachstum und die Wohlstandssteigerung weitgehend gleichgesetzt, obwohl selbst viele Wissenschaftler mittlerweile die Schwächen dieses Konzepts eingestehen. Die ökonomischen Kennzahlen bilden gesellschaftliche Prozesse nur eindimensional ab, die quantitative Größe erfasst nur offizielle und monetär bewertbare Vorgänge unternehmerischen Handelns. Ob die Umsätze auf Giftmüllverklappung, Waffenhandel oder Wohnungsbau basieren, spielt dabei keine Rolle.

So können beispielsweise ökologische Risikoindustrien unter Umständen den so ermittelten »Wohlstand« doppelt steigern. Zuerst bei der Herstellung der entsprechenden Produkte, später dann bei der Sanierung der industriell verwüsteten Areale und der Entsorgung der Giftstoffe.

Noch weitaus erstaunlicher ist, dass die Frage nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bei den Prognosen keine Rolle spielt. Selbst während der moderaten Wachstumsphasen in den neunziger Jahren wurden kaum neue Jobs geschaffen, während zugleich die Arbeitnehmer deutliche Lohneinbußen hinnehmen mussten. Tarifabschlüsse, die deutlich über der Inflationsrate liegen, gelten mittlerweile schlicht als nicht mehr zeitgemäß.

Die wirtschaftliche Globalisierung hat hier zu grundlegenden Änderungen in der Verteilung des Wohlstandes geführt. Die alte Regel, dass Wachstumsgewinne in abgeschwächter Form auch im unteren Drittel der Einkommenspyramide ankommen, hat ihre Gültigkeit weitgehend verloren. Die mit viel rhetorischem Getöse geführte Standortdebatte dient auch dazu, die Umverteilung nach oben in wirtschaftlich guten Zeiten fortzusetzen.

Was das bedeutet, lässt sich am Beispiel von Irland zeigen. In der vergangenen Dekade schuf die irische Regierung mit Hilfe von Steuer- und Sozialdumping ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Das ehemalige Sorgenkind der EU konnte sich als »keltischen Tiger« feiern lassen. Viele Konzerne verlegten damals ihren Firmensitz nach Dublin und schufen damit zahlreiche neue Arbeitsplätze auf der Insel, meist waren es Jobs, die dafür in anderen Regionen Europas verloren gingen. Im besten Falle mildert daher ein Konjunkturaufschwung die Folgen des nationalen Standortwettbewerbs etwas ab.

So ist es auch vermutlich kein Zufall, dass das einflussreiche Schweizer Institute for Management Development fast gleichzeitig mit den neuen EU-Prognosen Ende April eine Studie zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit führender Industrienationen präsentierte. Deutschland fiel in der Studie auf den 15. Platz zurück und liegt damit weit hinter Finnland, Luxemburg oder Singapur.

Vorschläge, wie die wirtschaftliche Misere zu überwinden sei, lieferte das Institut gleich mit. Die »Anpassungsfähigkeit an weltwirtschaftliche Veränderungen« müsse deutlich steigen, meinen die Autoren in ihrem Jahrbuch der Wettbewerbsfähigkeit. Und auch die EU empfiehlt den schwerfälligen Deutschen, ihren Arbeitsmarkt zu flexibilisieren und »alle Anstrengungen zu unternehmen, damit sich Arbeit wieder lohnt«. Streiks und hohe Tarifabschlüsse könnten hingegen potenzielle Investoren erschrecken und das Wachstum gefährden.

So sehr sich die Gutachter daher auch bemühen, ein freundliches Bild von der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa zu präsentieren, bleibt ihre Botschaft dennoch reichlich frustrierend. Auch bei guten Wachstumszahlen können in den nächsten Jahren nur wenige neue Jobs geschaffen werden. Und selbst zu diesem bescheidenen Ergebnis kann es nur kommen, wenn die Reallöhne weiter sinken.