Erfolgreich verzögert

Jahrelang wurde ein Prozess gegen zwei Neonazis, denen versuchter Mord vorgeworfen wird, verschleppt. Einer der beiden war ein V-Mann.

Ein Video über die Vertreibung der Flüchtlinge und Vertragsarbeiter aus Hoyerswerda, das man im Kreis der Kameraden bei einem Grillabend anschaute, habe den Anstoß gegeben, so etwas im heimatlichen Boizenburg auch zu tun. So lautete die zentrale Aussage der beiden Angeklagten in einem Prozess vor dem Schweriner Landgericht, der am Dienstag der vergangenen Woche mit Bewährungsstrafen für zwei ehemalige NPD-Funktionäre endete.

Angeklagt waren sie wegen versuchten Mordes und versuchter schwerer Brandstiftung. Sie sollen sich an einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim in dem kleinen Dorf Bahlen bei Boizenburg im Westen Mecklenburg-Vorpommerns am 31. Juli 1992 beteiligt haben. Damals hatte eine Gruppe von 40 Naziskins das Heim mit Brandflaschen beworfen und die Bewohner mit Baseballschlägern bedroht. Nur durch Zufall wurde niemand verletzt.

Zehn Jahre nach dem Anschlag präsentierten sich der 35jährige Sven Utehart und der 32jährige Thorsten Poppe aus Boizenburg im Prozesssaal des Schweriner Landgerichts als reuige Schäfchen und »kleine Lichter« in der NPD. Während zwischen 1992 und 1995 insgesamt 24 Naziskins und zwei führende Parteifunktionäre wegen des Boizenburger Brandanschlags zu Bewährungs- und Hafstrafen bis zu vier Jahren verurteilt worden waren, passierte Utehart und Poppe nichts.

Nicht ohne Grund. So berichteten Regionalzeitungen, dass die Schweriner Staatsanwaltschaft 1994 einer »dringenden Aufforderung« des Verfassungsschutzes von Mecklenburg-Vorpommern nachgekommen sei, sich bei der Strafverfolgung von Utehart und Poppe zurückzuhalten. Der Hintergrund sei, so der Nordkurier unter Berufung auf »Sicherheitskreise«, die geglückte Anwerbung von einem der NPDler als V-Mann gewesen.

Dieser Bitte wurde offenbar entsprochen. Nach Angaben des Justizministers Erwin Sellering (SPD), der behauptet, seine Behörde sei jahrelang von der Schweriner Staatsanwaltschaft desinformiert worden, waren die Ermittlungen gegen Utehart und Poppe immerhin drei Jahre nach dem Brandanschlag so weit abgeschlossen, dass eine Anklage hätte erhoben werden können.

Stattdessen konnten die beiden mit dem Segen der Sicherheitsbehörden ungestört Karriere in der Partei machen. Mitte der neunziger Jahre stieg Utehart in den Landesvorstand der NPD in Mecklenburg-Vorpommern auf und war dort bis zum November 2000 stellvertretender Landesvorsitzender. Poppe schaffte es lediglich zum stellvertretenden Vorsitzenden des Ortsverbandes in Boizenburg. Aus der Neonazipartei traten die beiden erst aus, als die Anklage gegen sie im November 2000 auf dem Tisch lag.

Während Poppe am ersten Prozesstag erklärte, er sei 1998 vom Verfassungsschutz mehrfach zur Mitarbeit aufgefordert worden, habe dies aber abgelehnt, verweigerte Utehart jegliche Stellungnahme zu dem Vorwurf, jahrelang als V-Mann des Geheimdienstes tätig gewesen zu sein. Beide räumten lediglich ein, an den Vorbereitungen beteiligt gewesen zu sein, nicht aber am Brandanschlag selbst.

Diese Strategie hatte Erfolg. Zur Aufklärung von Uteharts und Poppes Beteiligung verließ sich das Gericht im Wesentlichen auf die Teilgeständnisse der Angeklagten sowie auf Aussagen des ehemaligen NPD-Kreisvorsitzenden von Hagenow, Rüdiger Klasen, der im Dezember 1994 unter anderem wegen versuchten Mordes als Anstifter des Boizenburger Anschlags zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden war.

Der Straftatbestand wurde von der Staatsanwaltschaft auf Beihilfe zum versuchten Mord und versuchter schwerer Brandstiftung gesenkt, Poppe und Utehart kamen jeweils mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe davon. Sie müssen darüber hinaus jeweils 200 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten sowie die Prozesskosten tragen.

In seinem Plädoyer hatte Staatsanwalt Andreas Lins erklärt, dass die beiden als »damals junge, verblendete und von den bereits verurteilten geistigen Brandstiftern zu dumpfem Ausländerhass aufgestachelte Menschen« gehandelt hätten. Ihr Tatbeitrag sei gering gewesen, und der Anschlag wäre auch ohne ihre Beteiligung durchgeführt worden.

Der Richter Gerd Reimers merkte bei seiner Urteilsbegründung an, dass zumindest Poppe nicht mit einer Bewährungsstrafe davongekommen wäre, hätte der Prozess nur früher stattgefunden. Da die lange Verfahrensdauer den Angeklagten jedoch nicht angelastet werden könne und ein »derart großes Verschulden der Justiz erheblich gegen die europäische Menschenrechtskonvention« verstoße, müsste dies den Angeklagten strafmildernd angerechnet werden.

Unterdessen verläuft auch die politische Aufarbeitung des Justiz- und Geheimdienstskandals in Mecklenburg-Vorpommern äußerst schleppend. So hüten sich das Schweriner Innen- und Justizministerium davor, zu der V-Mann-Tätigkeit eines Angeklagten Stellung zu nehmen. Zwar soll Justizminister Sellering am 26. März dieses Jahres, also einen Monat vor Prozessbeginn, die Obleute der Fraktionen im Rechtsausschuss des Schweriner Landtags vertraulich über die Informantentätigkeit unterrichtet haben, berichtete die Schweriner Volkszeitung.

Doch wegen der »Wahrung des Geheimschutzes« und »laufender Ermittlungen« wird darüber hinaus geschwiegen. Dabei könnte sich so auch das Rätsel um die plötzliche Entlassung des Leiters des Verfassungsschutzes, Elmar Ruhlich, im April 2001 lösen. Vor einem Jahr war noch spekuliert worden, dass Ruhlich wegen der Affäre um den Neonazi-V-Mann Michael Grube und dessen Beteiligung an einem Brandanschlag auf eine Pizzeria in Grevesmühlen gehen musste. Nun wird vermutet, dass ihn die Affäre um Boizenburg den Job kostete.

Auch der Schweriner Staatsanwalt Wulf Kollorz, der derzeit im Prozess um die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen 1992 die Anklage vertritt und in den vorherigen Boizenburg-Verfahren die Ermittlungen geleitet und die Anklage vertreten hatte, muss um seinen Ruf fürchten. Auf Anordnung Sellerings ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft in Rostock inzwischen wegen »Strafvereitelung im Amt« und wegen einer möglichen Verschleppung des Verfahrens gegen ihn.