Der kolumbianische Anwalt Alirio Uribe Muñoz über Straflosigkeit

»Alles ist für den Krieg vorbereitet«

Seit Ende Februar wird in Kolumbien wieder gekämpft. Damals hatte Präsident Andrés Pastrana der Armee grünes Licht gegeben, die der Farc-Guerilla zugerechnete entmilitarisierte Zone wieder unter Kontrolle zu bringen. Obwohl bei den Kämpfen auch viele Zivilisten zu Tode kommen, werden Soldaten und Paramilitärs nur selten belangt. Alirio Uribe Muñoz ist Präsident des kolumbianischen Anwaltskollektivs »José Alvear Restrepo«, einer vor 22 Jahren gegründeten NGO. Muñoz wurde oft von Paramilitärs bedroht, rund um die Uhr ist er von Sicherheitskräften umgeben.

Was sind die Ursachen für das Phänomen der Straflosigkeit in Kolumbien?

Es gibt eine ganze Reihe von Ursachen, aber wesentlich ist, dass die Straflosigkeit, die Impunidad, quasi Staatspolitik ist. Das erstaunt angesichts der Investitionen der letzten Jahre in den Justizapparat. Das Personal wurde verdoppelt und der Etat verdreifacht, trotzdem hat sich an der Impunidad nichts geändert. Regierung und Justiz können vieles vorweisen, was auf den ersten Blick progressiv erscheint, etwa ein Zeugenschutzprogramm, trotzdem hat es keine Erfolge gegeben.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass das System so angelegt ist, Menschenrechtsverletztungen nicht zu ahnden. Viele Staatsanwälte, die mit Verfahren betraut werden, die wir angestrengt haben, haben bei uns um Hilfe und Schutz angefragt und uns gebeten, dabei zu helfen, sie ins Ausland zu bringen, da sie bedroht werden. Ein Beispiel ist das Massaker von Chengue. Mehrere Staatsanwälte und Richter wurden ermordet. In Antioquia, einer Region Kolumbiens, wurde der gesamte Ermittlungsstab »Paramilitarismus« umgebracht.

Oftmals gibt es Funktionäre, die in die Verbrechen verwickelt sind, oder die Ermittler werden ermordet, bevor sie genug Beweise haben. Hinzu kommt die mangelnde Kooperation von Seiten der Polizei, die dazu führt, dass über 90 Prozent der Morde nicht aufgeklärt werden. Und selbst wenn die Verantwortlichen gestellt werden und die Beweise auf dem Tisch liegen, gelingt es den Tätern immer wieder zu fliehen.

Wo werden verurteilte Angehörige der Armee bzw. der Polizei untergebracht?

In den Kasernen. Dazu ein Beispiel: Hier in Bogotá wurde 1994 ein Parlamentarier erschossen. Es war der letzte Parlamentarier der Unión Patriótica, Senator Manuel Cepeda. In diesem Prozess konnten wir beweisen, dass die Verantwortlichen zwei Militärs waren, die zu 43 Jahren verurteilt worden waren. Einer der beiden war Chef der Nachrichtenabteilung der 13. Brigade in Bogotá. Er war offiziell Gefangener, doch er konnte sich frei bewegen. Er nahm an Einsätzen teil, verfügte über beträchtliche Finanzmittel und beteiligte sich darüber hinaus am Mord an einem Oberstleutnant.

Ist das ein Einzelfall oder steckt System dahinter?

Einige Fälle legen den Eindruck nahe, dass System dahintersteckt. Präsident Pastrana hat ungefähr 380 Militär- und Polizeiangehörige entlassen. Davon sind unseren Informationen zufolge, die vor allem auf der Auswertung von Fernsehbildern beruhen, rund 40 Prozent mittlerweile Comandantes bei den Paramilitärs. Wir wissen, dass die Paramilitärs ein Anwerbungsprogramm für entlassene oder verurteilte Militär- oder Polizeiangehörige haben.

Woher nehmen Sie die Motivation für Ihre Arbeit angesichts dieser Verhältnisse?

Ohne unsere Arbeit würden die Zusammenhänge nicht klar. Einige Täter würde man vielleicht kriegen, aber von den Hintermännern wüsste man nichts. Auf dieses Netzwerk im Hintergrund stoßen wir immer wieder. Es ist frustrierend, aber die Impunidad einfach hinzunehmen, ist keine Lösung. Wir haben auch kleine Erfolge erzielt, und sei es nur, dass die USA keine Militärhilfe an bestimmte Divisionen vergeben, die mit den Paramilitärs kooperieren.

Woher kommen die Mittel für Ihre Arbeit?

Vor allem von europäischen Nichtregierungsorganisationen.

Was sind die Gründe für den Aufschwung des Paramilitarismus in Kolumbien?

Das Gesetz erlaubte es, Zivilisten zu bewaffnen, damit sie an der Seite des Staates gegen die Guerilla kämpfen. Es stammt aus dem Jahr 1965 und markiert den Beginn des Paramilitarismus in Kolumbien. 1989 wurde es zurückgenommen und die Paramilitärs wurden für illegal erklärt. Doch 1995 begann alles wieder von vorn mit der Gründung der Convivir, der Cooperativas de Vigilancia rural, durch Alvaro Uribe Velez, der sich derzeit um die Präsidentschaft bewirbt.

Der Paramilitarismus ist eine Strategie des Staates. Ein halbreguläres Heer wird geschaffen, ausgerüstet vom Staat, finanziert von Industriellen, von multinationalen Konzernen, um den Krieg gegen die Guerilla zu verstärken. Das Ziel ist, der Guerilla die soziale Basis zu nehmen. Alle, die mit der Guerilla sympathisieren könnten, werden bekämpft: Indigenagemeinden, die politische Opposition, die Gewerkschaften und auch Menschenrechtsorganisationen. Das ist die Privatisierung des schmutzigen Krieges, die uns über zwei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge beschert hat.

Wie sieht die Situation augenblicklich aus?

Mit dem Ende der Verhandlungen zwischen der Regierung und der Guerilla hat sich die Situation verschärft. Die Zahl von Bombenanschlägen, Gefechten, Entführungen und Massakern hat zugenommen. Unter der Regierung von Andrés Pastrana gab es mehr als 1 000 Massaker, die Zahl der politischen Morde hat sich von zwölf auf 20 pro Tag erhöht. Die Gewerkschaften meldeten im letzten Jahr 162 Attentate auf Gewerkschaftsführer, und in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden bereits 55 Gewerkschaftsfunktionäre ermordet.

Pro Tag verschwinden in Kolumbien zehn Menschen spurlos, und die Zahl der Entführungen ist unverändert hoch. 30 Prozent der Entführungen entfallen dabei auf die Guerilla, zehn Prozent auf die Paramilitärs, und die restlichen 60 Prozent werden gewöhnlichen Kriminellen zugeschrieben oder sind nicht eindeutig zuzuordnen. Entführung ist in Kolumbien ein einträgliches Geschäft.

Seit vier Jahren hat die Bevölkerung die Nase voll davon. Der Effekt der Friedensverhandlungen war gleich null. Derzeit sieht es danach aus, dass die Leute Alvaro Uribe Velez wählen werden. Uribe verbreitet die Hoffnung, dass mit dem Rückhalt der USA, mit dem Antidrogenkrieg und mit dem Plan Colombia die Guerilla zu besiegen sei. Statt auf Dialog wird nun auf Krieg gesetzt.

Der aber nicht zu gewinnen ist, da sind sich doch alle einig.

Natürlich ist vorhersehbar, dass das nicht wirken wird, aber das will keiner hören. Obwohl sich bereits zeigt, dass der Krieg auch in den Städten Einzug hält. Die Entführung der Parlamentarier in Cali oder der Anstieg der Zahl von Bombenanschlägen in den Städten zeigen das. Bisher spielte sich der Krieg vor allem auf dem Lande ab und hat die Bourgeoisie, die Politiker, die Industriellen dieses Landes nicht großartig betroffen. Das kann sich jedoch ändern. Paradoxerweise sind die Auslandsinvestitionen trotz dieser Verschärfung der Situation im Land angestiegen.

Was halten Sie denn von der Regierungspolitik, die auf internationaler Ebene die Bedeutung der Menschenrechte für Kolumbien betont?

Verantwortlich für die Menschenrechte in Kolumbien ist Vizepräsident Gustavo Bell, der vor einiger Zeit zum Verteidigungsminister ernannt wurde. Das sagt meiner Meinung nach alles. Kolumbien hat auf dem Papier ein ausgeklügeltes System von Institutionen, die die Menschenrechte schützen sollen. Kein anderes Land Lateinamerikas hat ein derartiges System, und kein anderes Land hat eine derartig düstere Menschenrechtsbilanz wie Kolumbien.

Es gibt auch Programme zum Schutz von Menschenrechtsvertretern. Ich habe ein gepanzertes Fahrzeug, einen ausgebildeten Fahrer, Handys mit direkter Leitung zur Polizei - und trotzdem kann ich nicht sicher sein, dass sie mich nicht ermorden. Ich verfüge über Informationen aus Geheimdienstkreisen, dass mich Polizei- bzw. Militärangehörige umbringen wollen.