Wahlen in Algerien

Die Verwalter des Desasters

Das Interesse an den algerischen Parlamentswahlen ist gering, die Legitimationskrise der antretenden Parteien umso größer.

Stell dir vor, es sind Wahlen, und keiner guckt hin. So lässt sich die Situation vor den Parlamentswahlen in Algerien am Donnerstag dieser Woche treffend beschreiben. Tatsächlich ist das Interesse der Mehrheit der 30,6 Millionen Einwohner des Landes, von denen der größte Teil jünger als 35 ist, an den Wahlen ausgesprochen gering.

Die Probleme, denen ein überwiegender Teil der Bevölkerung ausgesetzt ist, sind gravierender denn je. Seit einigen Wochen kommt in Algier und anderen Großstädten nur noch jeden sechsten Tag Wasser aus der Leitung, im vorigen Jahr war dies noch jeden dritten Tag der Fall. Der ausbleibende Regen, aber auch der Zustand der öffentlichen Infrastruktur haben die Probleme nochmals drastisch verschärft, Stauseen sind verschlammt, Abflüsse verstopft, und die Leitungen haben Risse. Fast 30 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung sind nach offiziellen Angaben arbeitslos. Eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung wird im Durchschnitt von sieben Personen belegt.

Zwar sollte man glauben, dass angesichts einer solch katastrophalen sozialen Situation das Interesse an einer gründlichen gesellschaftlichen Veränderung umso größer sein müsste. Das stimmt auch, doch das Vertrauen in die wichtigen politischen Formationen ist ausgesprochen gering. Ihre Programme unterscheiden sich nur in geringem Maße, sieht man von religiösen oder regionalen Akzentsetzungen ab.

Das ist unter anderem ein Erbe des für die so genannte Dritte Welt typischen Populismus, der die antikolonial-nationalistische Bewegung am Anfang prägte. Während der Kolonialzeit schienen alle Algerier arm und unterdrückt und sollten daher die gleichen Interessen haben. Das änderte sich zwar nach der Unabhängigkeit. Doch unter der autoritären Herrschaft des Front de libération nationale (FLN, Nationale Befreiungsfront) von 1962 bis 1988/89 wurde der Populismus von oben aufrechterhalten.

Die Tageszeitung El Watan fragte im April dieses Jahres die Algerier, welcher politischen Formation sie am ehesten zutrauen, die bestehenden Probleme zu lösen. 49 Prozent antworteten schlicht: »Gar keiner«. Von allen Parteien schneidet der FLN noch am besten ab. 19,8 Prozent der Befragten schenken der Partei ihr Vertrauen, die Mehrheit von ihnen ist älter als 45 Jahre.

Von den älteren Generationen wird der FLN nach wie vor mit der Ära des staatssozialistischen Entwicklungsmodells in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit in Verbindung gebracht. Damals waren die materiellen Lebensbedingungen ungleich besser, die Frauen lebten weitaus freier als heute, und es gab viele Hoffnungen auf eine gute Zukunft.

Der FLN ist seit 1999 erneut die stärkste Partei in der Regierungskoalition unter Präsident Abdelaziz Bouteflika. Die zweitstärkste Partei ist der Rassemblement national démocratique (RND, Nationale demokratische Sammlung), der sich Mitte der neunziger Jahre vom FLN abgespalten hat. Allerdings ist es gerade diese »Zwillingsformation« aus FLN und RND, die in erster Linie die Politik der Privatisierung, der Zerschlagung des ehemaligen Entwicklungsmodells und der Öffnung zugunsten französischer und US-amerikanischer Wirtschaftsinteressen verfolgt. Der verbliebene Einfluss dieser Parteien geht unter anderem auf klientelistische Netzwerke zurück, die es unter Umständen ermöglichen, zu Wohnraum oder einem Job zu kommen.

Eine Prognose von El Watan sieht daher auch den FLN, und in geringerem Maße den RND, als Hauptgewinner der Wahlinszenierung. Verlieren werden nach einigen Prognosen wohl die legalen islamistischen Parteien, von denen zwei, der MSP/Hamas und Ennahda, ebenfalls an der Vier-Parteien-Koalition der amtierenden Regierung beteiligt sind.

Einerseits ist davon auszugehen, dass das Regime deren Einfluss wegen des internationalen Klimas seit dem 11. September 2001 zurückzudrängen versucht. Eine Manipulation der Ergebnisse ist - auch deswegen - möglich, aber nicht sicher. Nach Angaben von El Watan erwarten 39 Prozent der befragten Algerier Fälschungen, nur 35 Prozent sind gegenteiliger Ansicht. Andererseits hat die Regierungsbeteiligung auch diese »gemäßigten« Islamistenparteien teilweise diskreditiert. Vielleicht benötigt das Regime deswegen Manipulationen gar nicht. Jedenfalls hegt nur jeder zweite Wahlberechtigte die Absicht, überhaupt an den Wahlen teilzunehmen.

Die beiden eher laizistischen, kabylischen Regionalparteien RCD (Sammlung für Kultur und Demokratie) und FFS (Front der sozialistischen Kräfte) nehmen an den Wahlen gar nicht erst teil. Das ist das Ergebnis des Drucks der Protestbewegung in der Kabylei, die in dem berbersprachigen Landesteil rund 100 Kilometer östlich der Hauptstadt Algier seit nunmehr 13 Monaten revoltiert.

Die Bewegung hatte bereits im Dezember des vorigen Jahres den Boykott der Parlamentswahl beschlossen und ihr Vorgehen im Frühjahr noch einmal radikalisiert. Seither geht es ihr um eine »aktive Behinderung der Wahlen«, im März wurden mancherorts Urnen verbrannt (Jungle World, 13/02). Unter dem Druck der regionalen Unruhen beschlossen auch die Parteien des kabylischen Establishments, nicht an der Wahl teilzunehmen, obwohl sie über einen großen Einfluss in der Region verfügen.

Lediglich für die beiden Staatsparteien FLN und RND sowie für die linkspopulistische Kleinpartei Parti des travailleurs (PT, Arbeiterpartei) von Louisa Hannoun treten an einigen Orten in der Kabylei Kandidaten an. Innenminister Yazid Zerhouni drohte in der vorigen Woche, die Verwaltung in den Rathäusern der Kabylei, die meist vom FFS oder vom RCD gestellt wird, durch staatliche »Kommunaldelegierte« zu ersetzen, falls die Wahl nicht reibungslos verlaufe. Bereits seit zwei Monaten hat der algerische Staat die Repression erhöht. Eine Reihe von Delegierten der Aarouch-Versammlungen wurde im März verhaftet.

Diese Versammlungen, die für die Zentralregierung als unberechenbar gelten, sind besonders von den Repressionen der letzten Wochen betroffen. Sie bilden den populistischen Flügel der kabylischen Bewegung und gründen sich auf die Aarch oder Aarouch, eine aus der vormodernen kabylischen Gesellschaft übernommene lokale Organisationsform, die sich aber während der Proteste verändert hat (Jungle World, 38/01). Außerdem gibt es den »dialogbereiten« Flügel, der seit dem Jahreswechsel mit der Zentralregierung verhandelt, und einen tendenziell sozialistischen Flügel, dem die Gewerkschaften und Stadtteilkomitees angehören und der vor allem in der Großstadt Bejaïa und ihrem Umland verankert ist. Diese Strömung experimentiert mit einer Art Rätemodell.

In der vergangenen Woche wurde die Repression aber auch auf die Hauptstadt Algier ausgedehnt. Am 18. Mai besuchte Staatspräsident Bouteflika den Campus von Bouzaréah, einer der vier Universitäten in Algier, die auf den Hügeln oberhalb der Stadt liegt. Bouzaréah ist sowohl eine Hochburg von Sympathisanten der kabylischen Protestbewegung als auch der radikalen Linken in Gestalt des Parti socialiste des travailleurs (PST, Sozialistische Arbeiterpartei).

Bei seiner Ankunft wurde Bouteflika mit Sprechchören empfangen, die sich sowohl gegen die staatliche Politik in der Kabylei als auch gegen die so genannte Reform, also die drohende Teilprivatisierung des Hochschulwesens richteten. Es kam zu vereinzelten Steinwürfen.

Als Reaktion darauf wurden zunächst 21 Personen verhaftet, darunter zwei Mitglieder der algerischen Liga für Menschenrechte (LADDH) sowie drei des linken PST und zwei des FFS. Am vergangenen Sonntag begann der Prozess gegen die 21 »Unruhestifter« vor dem Bezirksgericht von Bir Mourad Raïs unweit von Algier. Ihnen wird Präsidentenbeleidigung und Landfriedensbruch vorgeworfen.

Seit voriger Woche befinden sich weitere Universitätsinstitute im Aufruhr. Am Mittwoch der vergangenen Woche wurden beispielsweise 20 Studenten vor dem Tiermedizinischen Institut festgenommen. Die Gewerkschaft der Hochschullehrer unterstützte die Protestierenden. Und für den Dienstag dieser Woche hatten die Studierenden ein Sit-in vor dem Regierungspalast angekündigt.

Damit ist kurz vor dem Wahltermin doch noch Leben in die politische Öde der Hauptstadt eingekehrt.