Eskalation zwischen Pakistan und Indien im Kaschmir-Konflikt

Feuer an die Lunte legen

Das scheint das Motto islamistischer Kräfte in Kaschmir zu sein. Doch auch ohne weitere Attentate wächst die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen Indien und Pakistan.

Die Situation stehe »auf Messers Schneide«, befand EU-Außenkommissar Chris Patten am Freitag vergangener Woche während seines Indien-Besuchs; US-Präsident George W. Bush und sein russischer Gastgeber Wladimir Putin äußerten sich »tief besorgt« über die Zuspitzung der Krise zwischen Indien und Pakistan; Großbritannien warnte vor einem Atomkrieg und ließ die Armee einen Plan zur Evakuierung britischer Bürger ausarbeiten. Die jüngste Eskalation, so scheint es, hat die Welt erwachen lassen. Westliche Medien hatten in den vergangenen Monaten kaum darüber berichtet, dass sich seit Dezember an der umstrittenen Grenze in der Kaschmir-Region 750 000 indische und 250 000 pakistanische Soldaten mit Mörsern beschießen.

Dazu musste erst der indische Premierminister Atal Bihari Vajpayee an die Front fahren, die Soldaten dort auf »Opfer« vorbereiten, eine »entscheidende Schlacht« ankündigen und donnern: »Unser Ziel ist der Sieg!«, während jenseits der Grenze der Militärmachthaber Pervez Musharraf neue Mittelstreckenraketen testen ließ und verkündete, man sei »auf einen Krieg vorbereitet«. Beide Staaten verfügen über Atomwaffen; Schätzungen reichen von 25 bis zu 100 pakistanischen und von 60 bis zu 250 indischen Sprengköpfen.

Seitdem drei pakistanische Mujaheddin vor zwei Wochen im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir ein Armeelager angegriffen und 35 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten, ermordet haben, hat der Konflikt eine neue Qualität. Indien unterstellte in der vergangenen Woche Paramilitärs und die Küstenwache dem Armeekommando; Pakistan kündigte den Abzug von 4 000 UN-Soldaten aus Sierra Leone an - Kriegsvorbereitungen, auch wenn Vajpayee nach seiner Rede wieder abwiegelte.

Die Feindseligkeiten stellen die dritte, bislang gefährlichste Eskalationsstufe der sich seit einem halben Jahr zuspitzenden Krise dar. Anfang Oktober hatte ein blutiger Anschlag pakistanischer Jihadis auf das Parlament des Bundesstaates Jammu und Kaschmir die neue Politik der Härte eingeleitet.

Nach zehn Monaten relativer Ruhe an der Kontrolllinie begann Indien mit dem Beschuss pakistanischer Stellungen; die damals noch Hardlinern vorbehaltene Forderung, »Terroristenlager« in Pakistan anzugreifen, wurde lauter. Ein Angriff auf das Bundesparlament in Neu Delhi im Dezember veranlasste auch indische Regierungsmitglieder, laut über diese Option nachzudenken, während die gefechtsbereite Armee an der Grenze zusammengezogen wurde.

Indien verlangt, dass die pakistanische Regierung gegen militante Separatisten vorgeht, die von Pakistan aus im indischen Teil Kaschmirs operieren. Für den dortigen Bürgerkrieg macht die indische Regierung den pakistanischen Staat verantwortlich. Tatsächlich unterstützt dieser seit den frühen neunziger Jahren die Gotteskrieger.

Wenig überzeugend ist aber die indische Behauptung, Pakistan trage die Schuld am Sezessionskampf in Kaschmir, der sich seit Jahren islamisiert. Mehr als zwei Drittel der Guerrilleros kommen aus Indien. Der Hauptgrund für den Aufstand dürfte eher Indiens Regierungspolitik sein, die seit 50 Jahren darin besteht, mit der Absetzung von populären Regierungen des Bundesstaates und mit Wahlfälschungen Kaschmir in der Union zu halten. Hinzu kommt die Gewalt der Soldaten im Kaschmir-Tal.

Daher wären Angriffe auf Ausbildungslager in Pakistan weitgehend nutzlos, zumal die Armee, die seit Jahren mit der Aufstandsbekämpfung überfordert ist, die Islamisten kaum so treffen würde, dass sie sich nicht schnell neu formieren könnten. Zudem verfügt Pakistan über die siebtstärkste Armee der Welt.

Die Mobilisierung mag militärisch sinnlos sein, politisch sinnlos ist sie nicht. Seit Anfang des Jahres stehen 80 Prozent der pakistanischen Armee an der indischen Grenze, statt, wie es die USA gerne hätten, im Westen Jagd auf afghanische Grenzgänger zu machen. Deswegen versuchte die US-Regierung, die Situation zu entspannen, indem sie Musharraf zur Verfolgung der islamischen Rechten drängte. Der selbst ernannte Präsident ließ über 2 000 Islamisten verhaften, verbot fünf ihrer Organisationen und kündigte in einer von internationalen Medien als »historisch« bewerteten Rede weitere Maßnahmen an.

Nach dieser Kehrtwende glaubten manche Beobachter, die Macht des politischen Islam sei überschätzt worden, zumal der Präsident schon vorher durchgegriffen hatte. Wenige Stunden vor Beginn des Afghanistan-Krieges setzte er mehrere islamistische Generäle ab, um einem möglichen Putsch zuvorzukommen; während der folgenden Wochen ließ er antiamerikanische Kundgebungen verbieten und auf Demonstranten schießen.

Zwar sind die islamischen Parteien tatsächlich seit Monaten geschwächt, doch hat die Gewalt der militanten Gruppen seit Jahresbeginn neue Dimensionen erreicht. Mit einer Handgranatenexplosion in einer Kirche im Botschaftsviertel, einem vereitelten Raketenanschlag auf eine US-Basis, der Entführung und Ermordung eines US-Journalisten und einem Selbstmordattentat auf französische U-Boot-Ingenieure richtet sich der Terror anders als früher gegen Ausländer und fordert zudem den pakistanischen Staat heraus.

Im Dezember hatte die pakistanische Zeitung The Dawn eine Prophezeiung zur Zukunft der aus Afghanistan heimkehrenden Mujaheddin gewagt: »Diese Kämpfer werden nun mit ihren Waffen in alle Nachbarländer ausschwärmen. Die Regierungen müssen sich auf diese Bedrohung vorbereiten, die jegliche Form, Dimension und Intensität annehmen kann.« Insofern scheint es plausibel, dass der Geheimdienst und die Armee den Gotteskriegern weiterhin beim Grenzübertritt helfen. Damit wären sie nicht nur aus dem Weg geräumt, der Putschgeneral könnte auch demonstrieren, dass er den »Freiheitskampf in Kaschmir« weiter unterstützen wird - im Gegensatz zu den einst geförderten Taliban. Das Verbot der Organisationen jedenfalls galt nie in der formell unabhängigen Provinz Azad Kashmir, wo diese noch immer 60 Ausbildungslager unterhalten sollen.

Auch wenn beide Länder kein Interesse am Krieg haben, steht die indische Regierungskoalition um die hindunationalistische Rechtspartei BJP keineswegs unter geringerem innenpolitischem Druck als Musharraf. Das jüngste Massaker traf vor allem Frauen und Kinder von Frontsoldaten, entsprechend ist die Stimmung in der Armee. Außerdem wäre die Regierungskoalition Ende April beinahe auseinandergebrochen.

Nach den antimuslimischen Pogromen in Gujarat, bei denen unabhängigen Schätzungen zufolge 2 000 Menschen getötet wurden, warfen Medien und Opposition der Regierungspartei BJP vor, Parteimitglieder und Aktivisten ihrer rechtsextremen Schwesterorganisationen hätten das Gemetzel teilweise organisiert, das außerdem von der BJP-Regierung im Bundesstaat toleriert worden sei. Bei einem Misstrauensvotum enthielten sich einige wichtige, auf muslimische Wähler angewiesene Koalitionspartner. Seit dem jüngsten Anschlag kennt man, wie in Krieg führenden Staaten üblich, keine Parteien mehr; selbst Kommunisten stehen hinter der Regierung.

Andererseits zitieren indische Zeitungen gelegentlich kritische Töne von ehemaligen und aktiven Generälen: Die monatelange Mobilisierung verschleiße die Armee; Ressourcen würden verschwendet und die Moral untergraben. Das auf internationale Hilfe angewiesene Pakistan kann sich die monatelange Kriegsbereitschaft ohnehin kaum leisten.

Aller Voraussicht nach wird Indien jedoch erneut herausgefordert werden. Für September sind Regionalwahlen in Jammu und Kaschmir geplant, traditionell eine Zeit verstärkter Rebellenaktivität. Die Ermordung eines gemäßigten Separatistenführers, die in der vergangenen Woche einen Generalstreik im Kaschmir-Tal auslöste, könnte schon mit den Wahlen in Zusammenhang stehen. Einige der zerstrittenen Separatisten plädieren neuerdings dafür, den bislang üblichen Wahlboykott aufzugeben.

Auch ohne weitere Attentate bergen die gegenwärtigen Gefechte die Gefahr, dass sie sich schneller zum Krieg ausweiten, als die Handelnden begreifen können. Zwar haben beide Seiten Raketen und Atomsprengköpfe, gut funktionierende Befehls- und Kontrollstrukturen existieren dagegen nicht.