Ermittlungen gegen Polizisten wegen der Einsätze von Genua

Kriminelle Vereinigung

Der Polizeieinsatz während des G 8-Gipfels in Genua beschäftigt weiterhin die italienische Justiz. Staatsanwälte ermitteln gegen 48 Polizisten.

Die Rechnung kommt spät. Zehn Monate nach dem G 8-Gipfel in Genua hat die Staatsanwaltschaft der Stadt in der vergangenen Woche Ermittlungsverfahren gegen weitere 48 Polizisten eingeleitet. Sie sollen am Sturm auf die Diaz-Schule, in der Gipfelgegner übernachteten, beteiligt gewesen sein. In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2001 drangen 80 Polizisten in die Schule ein, wo sie fast zwei Stunden wüteten. Als Ergebnis der Aktion mussten 62 Globalisierungsgegner ins Krankenhaus eingeliefert werden. Alle 93 Personen, die sich in der Schule aufhielten, wurden verhaftet.

Doch nach der von vielen Augenzeugen als »chilenisch« bezeichneten Nacht wollte es niemand gewesen sein. Keiner der leitenden Beamten der verschiedenen in Genua eingesetzten Sicherheitskräfte übernahm die Verantwortung für die Polizeiaktion. Es wurde nicht einmal öffentlich gemacht, welche Polizeieinheiten am Überfall beteiligt waren. Dabei gab es von Anfang an Hinweise auf das mobile Einsatzkommando aus Rom.

Das Sonderkommando zur Aufstandsbekämpfung war als Eliteeinheit speziell für den G 8-Gipfel gebildet worden. Schon Ende August leiteten die drei Staatsanwälte aus Genua, die sich mit den Vorfällen in der Diaz-Schule befassen, gegen 16 Beamte der Einheit, darunter auch ihren Leiter Vincenzo Canterini, Ermittlungsverfahren ein. Mit den neuen Verfahren ist die Zahl der verdächtigten Beamten nun auf 77 gestiegen. Ein Grund für Gianfranco Fini, den Vorsitzenden der postfaschistischen Alleanza Nazionale (AN), gegen die Justizbehörden zu wettern: »Ich habe größten Respekt vor der Magistratur, doch es kann nicht sein, dass die Zahl der Ermittlungen gegen Ordnungskräfte die der Ermittlungen gegen Demonstranten überschreitet.«

Die Staatsanwaltschaft wirft den Polizisten schwere Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung vor, weil sie nicht versucht hätten, die Gewalt zu beenden. Erschwerend komme hinzu, dass sie Repräsentanten des Staates seien. Die so genannten »Celerini« behaupten jedoch, nicht als Erste in die Schule eingedrungen zu sein. Sie hätten die Verwüstung nur vorgefunden, lautet ihre Version. Inzwischen häufen sich jedoch die Hinweise, die gegen das Sonderkommando sprechen. Die Staatsanwälte sind derzeit in Deutschland und Großbritannien unterwegs, um ausländische Opfer des Überfalls zu befragen. Die Mehrheit der Augenzeugen kann die charakteristischen Merkmale des Sonderkommandos beschreiben: dunkelblaue Uniformen, spezielle Helme, schwarze Gurte, an denen Tränengasbomben befestigt sind, und besondere Schlagstöcke.

Identifizierbar waren die Beamten nicht. Unter den Helmen hatten sie sich zusätzlich ihre roten Halstücher, die zur Uniform gehören, vors Gesicht gebunden. Wohl auch deswegen haben sich die Polizisten bisher wenig von den Ermittlungen und Vernehmungen der Staatsanwälte stören lassen. Keiner der Verdächtigten wurde bisher vom Dienst suspendiert. Auch Canterini kam ohne Disziplinarverfahren davon. Er hat eine neue Aufgabe gefunden und ist mittlerweile ein hoher Funktionär in der rechten Polizeigewerkschaft Consap.

Unbeantwortet bleibt weiterhin die Frage, wer den Befehl zum Einsatz in der Diaz-Schule gegeben hat. Die parlamentarische Untersuchungskommission, die zu den Vorfällen einberufen worden war, kam zu dem Ergebnis, dass der Polizeipräsident von Genua, Antonio Colucci, »keinen Verantwortlichen für die Operation eingesetzt hatte«. Der mittlerweile entlassene Colucci bestritt diese Version mit dem Hinweis, dass in diesen Tagen in Genua andere Kräfte das Sagen hatten. Seine Behörde sei von den aus Rom geschickten Beamten faktisch entmachtet worden.

Doch vor allem der Umfang der Operation macht es unwahrscheinlich, dass es keine zentrale Koordination gab. Tatsächlich hielten sich in jener Nacht viele hohe Beamte vor der Schule auf: Arnaldo La Barbera, der ehemalige Chef der Antiterroreinheiten, Spartaco Mortola, der ehemalige Chef der politischen Polizei Digos in Genua, und Francesco Gratteri, der Leiter der Sco. Diese Spezialtruppe der Kriminalpolizei hatte am Abend des 21. Juli die Aufgabe übernommen, in den Straßen rund um die Diaz-Schule zu patrouillieren.

Ebenso ungeklärt wie die Verantwortung für den Einsatz ist die Frage, mit welcher Berechtigung die Schule gestürmt wurde. Weiterhin besteht der Verdacht, dass es sich um eine reine Vergeltungsaktion der Sicherheitskräfte handelte. Die Version, dass an jenem Abend eine Polizeistreife aus der Schule mit Steinen und anderen Gegenständen beworfen worden sei, erwies sich als nicht haltbar. Nicht einmal die betroffenen Polizisten, die den angeblichen Steinhagel in ihren Polizeibericht aufgenommen hatten, konnten sich später daran erinnern. Vor den Staatsanwälten sagten sie aus, sie hätten dies lediglich von Kollegen erfahren.

Ähnlich unglaubwürdig ist das Argument, die Polizei habe sich bei der Durchsuchung gegen den heftigen Widerstand der Globalisierungskritiker zur Wehr setzen müssen. Als angeblicher Beweis dafür galten die Verletzungen, die der Polizist Massimo Nucera bei der Razzia durch Messerstiche erlitten haben soll. Die Spuren der Messerstiche stimmten allerdings nicht mit den Schnitten im Uniformhemd und der kugelsicheren Weste überein, die der Polizist übereinander getragen hatte. Eine Untersuchungsgruppe bestätigte in der letzten Woche, dass die Kleidungsstücke nachträglich manipuliert worden seien. Peinlich für die Alleanza Nazionale, denn sie hatte die Kleidungsstücke in ganz Italien zeigen lassen, um Solidaritätsunterschriften für die beteiligten Polizeibeamten zu sammeln.

Fini hält dennoch an seiner Version fest. »Diese Regierung hat nie gezögert, klar auszusprechen, wer die Angreifer und wer die Angegriffenen waren. Denn es gibt keinen Zweifel, dass die Polizisten angegriffen wurden«, sagte er in der vergangenen Woche auf einer Wahlkampfveranstaltung in Lucca.

Immerhin gibt es gute Neuigkeiten für die Misshandelten aus der Diaz-Schule. Es zeichnet sich ab, dass die Ermittlungen gegen sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt eingestellt werden. Für die Staatsanwälte lässt sich aus den Polizeiberichten keine individuelle Schuld einer Person ableiten. Weiter ermittelt wird dagegen wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.