Richtungsstreit bei den französischen Sozialisten

Nichts geht mehr

Kurz vor den französischen Parlamentswahlen liefern sich die Sozialisten einen heftigen Richtungsstreit.

Die Sozialistische Partei (PS) scheint sich auf eine lange Zeit in der Opposition einzustellen. An einen Erfolg bei den französischen Parlamentswahlen am 9. und 16. Juni glaubt die Mehrheit ihrer Funktionäre offenkundig nicht mehr so recht. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die bürgerliche Rechte gewinnen wird. Denn die Sozialisten sprachen sich im Präsidentschaftswahlkampf vehement gegen eine erneute Kohabitation aus, also gegen die Koexistenz einer linken Parlamentsmehrheit und eines konservativen Staatspräsidenten. Nach dem Erfolg von Jacques Chirac müssen sie aber nun im Wahlkampf eben diese Machtteilung befürworten, wenn sie die parlamentarische Mehrheit erringen wollen.

Die Fortsetzung dieser Zwangsgemeinschaft dürfte aber wenig Begeisterung hervorrufen. Viele Mitte-Links-Wähler werden daher vermutlich im zweiten Wahlgang die bürgerlichen Parteien bevorzugen, denen in den meisten Wahlkreisen eine Mehrheit vorausgesagt wird. Dass voraussichtlich viele rechtsextreme Kandidaten in den zweiten Durchgang gelangen werden, dürfte die Rechnung nicht einfacher machen.

Dennoch können im Juni sowohl die Sozialisten wie auch die Kommunistische Partei im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen mit einem leichten Stimmengewinn rechnen. Den Sozialisten werden rund 24 Prozent der Stimmen vorausgesagt, der KP rund sechs Prozent. Das Entsetzen über die Erfolge des rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen bei der Präsidentenwahl dürfte einen Teil ihrer Anhänger, die sich noch im April der Stimme enthielten, wieder mobilisieren. Die Linksparteien und die ihnen nahe stehenden Medien führen derzeit eine lautstarke Kampagne gegen die »Verantwortungslosigkeit« der Nichtwähler und jener, die ihre Stimme zugunsten der radikalen Linken »verschwendet« hätten. Doch einen Wahlsieg wird diese Kampagne wohl kaum herbeiführen.

Dramatische Niederlagen sind für die Sozialisten keine neue Erfahrung. Nach fünf Jahren sozialliberaler Mehrheit erlebten die Sozialisten im März 1993 ihre bis dahin schwerste Niederlage, als die Partei mit 17,4 Prozent nur noch die Hälfte ihres ursprünglichen Stimmenanteils erreichen konnte. »Le big bang«, den Urknall, hatte der vorherige sozialistische Premierminister, Michel Rocard, schon vor den Wahlen angekündigt. Als Konsequenz aus der absehbaren Niederlage forderte er, dass die Partei vollkommen »neu gegründet« werden müsse und einer Koalition mit »aufgeschlossenen Liberalen, Reformkommunisten und vernünftigen Ökologen« Platz machen solle.

Überraschend schnell erholten sich die Sozialisten vom Wahldesaster. Bei der Präsidentschaftswahl im Mai 1995 schnitt ihr damaliger Kandidat Lionel Jospin erstaunlich gut ab. Zwei Jahre später gewann die neue Koalition der »pluralen Linken«, die ungefähr dem Bündnis glich, das Rocard vorgeschlagen hatte, die vorgezogenen Neuwahlen.

Die Sozialisten konnten damals von den sozialen Protestbewegungen, die sich gegen die neokonservative Politik formiert hatten, und der polarisierten Debatte profitieren. Auf der einen Seite predigte die konservative und wirtschaftsliberale Rechte hinter Chirac und Alain Juppé die gesellschaftliche Resignation als »Einsicht in die objektiven wirtschaftlichen Notwendigkeiten«. Auf der anderen Seite repräsentierte Jospin einen politischen Voluntarismus, der neue Gestaltungsspielräume zu schaffen versprach.

Von diesen Spielräumen ist nicht mehr viel übrig geblieben, nachdem die plurale Linke fünf Jahre lang die »wirtschaftspolitischen Zwänge« zu verwalten hatte. Bei der Präsidentschaftswahl Ende April hat Jospin nun eine noch heftigere Niederlage erleben müssen als seine sozialistischen Vorgänger in den neunziger Jahren. Und ähnlich wie damals gibt es nun erregte Diskussionen in der Partei, welche Konsequenzen aus dem Debakel zu ziehen sind.

In Erwartung ihrer künftigen Oppositionsrolle haben die Sozialisten ihr Wahlprogramm zunächst nach links erweitert. Im Programm für die Präsidentschaftswahlen war bei Jospin von sozialen Reformen kaum noch die Rede. Er versprach lediglich, dass es in fünf Jahren 900 000 Arbeitslose weniger geben solle. Dieses Ziel sollte aber vor allem durch ein hohes Wirtschaftswachstum von drei Prozent erreicht werden.

In ihrem Programm für die Parlamentswahlen fordern die Sozialisten nun, dass Betriebe für prekäre Jobs höhere Steuern zahlen sollen. Unternehmen, die Subventionen zur Beschäftigungsförderung erhalten haben, sollen diese Gelder wieder zurückerstatten, wenn sie dennoch entlassen. Die KP hatte zwar schon vor zwei Jahren einen entsprechenden Gesetzestext eingebracht, der auch von der Koalition verabschiedet wurde. Die sozialistischen Ministerien hatten aber »vergessen«, die notwendigen Ausführungsbestimmungen dafür zu erlassen. Zudem sollen die Beschäftigten künftig besser »gegen ungerechtfertigte Entlassungen« geschützt werden. Zum Zeitpunkt der börsenbedingten Entlassungen beim Automobilhersteller Michelin verkündete Regierungschef Jospin 1999 noch, dass »der Staat nicht alles regeln« könne.

Die vorsichtige Wende nach links löst nicht bei allen Parteimitgliedern helle Freude aus. So musste der ehemalige Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn sich am vergangenen Mittwoch in einer TV-Debatte fragen lassen, warum er denn jetzt die »Umverteilung der Reichtümer« predige, wo er doch in seiner Amtszeit explizit erklärt habe, dass solche Eingriffe »nicht Sache des Staates« seien.

Mit den Worten, die Sozialisten hätten »das Signal der Wähler verstanden«, verteidigte er zwar die Forderungen. Hinter den Kulissen aber tobt derzeit ein heftiger Richtungsstreit. Den Freunden von Strauss-Kahn ist das aktuelle Wahlprogramm zu traditionell und nicht »modern« genug. »Das ist ein Scheißprogramm, das uns automatisch verlieren lassen wird«, tönte etwa Laurent Fabius, bis vor kurzem noch Wirtschafts- und Finanzminister in der Koalitionsregierung. Die beiden einflussreichen ehemaligen Minister setzen auf eine andere Art der Erneuerung. Fabius verweist gern auf die Oppositionszeit der britischen Labour-Party ab 1979. Erst als Tony Blair mit seiner modernisierten Variante des Thatcherismus angetreten sei, meint er, habe die Partei nach 18 Jahren endlich die Opposition verlassen können.

Fabius und Strauss-Kahn geben derzeit Ruhe und lassen den PS-Sekretär und derzeitigen Spitzenkandidaten François Hollande den Parlamentswahlkampf führen. Für den Fall eines Wahlsieges aber haben sie ihm bereits das Recht abgesprochen, »automatisch« Premierminister zu werden. Und für den Fall einer neuen Oppositionszeit fordern sie die Einberufung eines Parteikongresses im kommenden Herbst.