»Tocotronic« von Tocotronic

Mehr Fragen als Antworten

Tocotronic machen endgültig Schluss mit dem Immergleichen und damit alles besser als je zuvor.

Eines ist doch sicher: Eins zu eins ist jetzt vorbei. Wir sind wie Agenten, jetzt ist es soweit«, singt Dirk von Lowtzow in dem Stück »Neues vom Trickser« auf der neuen Platte von Tocotronic. Die früher so gerne benutzte penetrante Ich-Perspektive in den Texten der Hamburger Band wurde zwar schon auf ihrem letzten Album »K.O.O.K.« extrem zurückgenommen, doch nun ist alles sogar noch abstrakter geraten. War zuletzt viel vom dunklen Königreich und einer allgemeinen Unsicherheit die Rede, so drückt sich Dirk von Lowtzow nun noch undeutlicher aus: »Wir sind nie allein: Die Wolke der Unwissenheit wird für immer bei uns sein. Vielleicht sind wir, was sie träumen. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.«

Ist dies nun die atmosphärische Beschreibung eines Zustands des Zweifelns oder bloß eine Aneinanderreihung von Platitüden? Die bildhafte Sprache von Tocotronic bietet genügend Raum für unterschiedliche Interpretationen, und man schreckt auch nicht vor der Beschreibung von Seltsamkeiten zurück. In jedem einzelnen Song stecken mehrere Andockmöglichkeiten für eigene Assoziationen, und die versteckten Verweise und möglichen Bedeutungen werden weit gestreut.

Die Grundhaltung ist wieder eine ähnliche wie bei »K.O.O.K.«, wo die Europe-Fanfare aus »The Final Countdown« für »Let There Be Rock« nicht diffamierend aufbereitet wurde, sondern wie ein Sample im Sinne von Intertextualität in einen neuen Zusammenhang gestellt wurde. »Tocotronic« bewegt sich ebenfalls munter durch die Musikgeschichte (ein nach Morrissey klingender Gesang in »Führe mich sanft«, ein an die Neuseelandpop-Band The Clean erinnerndes Solo in »Das böse Buch«, eine Gitarre wie in David Bowies »Heroes« in »Schatten werfen keine Schatten«).

So sollten gute Platten ja auch funktionieren, sie sollen Fährten legen zu anderen Welten, damit der Hörer über sich hinauswachsen und zum Spurenleser werden kann. Indem wir die aufgespürten Codes anhand unserer eigenen kulturellen Sozialisation zu entschlüsseln versuchen, geben uns Tocotronic, die ja nicht mehr unbedingt biographisches Identifikationsmaterial liefern wollten, dann doch wieder genügend Möglichkeiten, die eigene Lebenswelt im Format Popsong mitzudenken.

Neben all den eher verschlüsselten Codes bietet die Band auch ein paar ganz offensichtliche Verweise an: »Das Licht aus. Den Schalter um. Hier ist das Imperium. In meinem Blick gibt es kein Zurück und kein Ende.« Die gelegte Fährte zu »Empire«, dem Buch von Antonio Negri und Michael Hardt, der aktuellen Standardlektüre der Neuen Linken, ist unübersehbar. Die Band dazu im Interview: »Begriffe wie 'das Imperium' oder 'das dunkle Königreich' interessieren uns, weil sie mit einer Doppelbödigkeit spielen. Dass sie einerseits politisch gelesen werden können und andererseits stark aus einer Fantasywelt entlehnt sind. Dieser Doppelbedeutung sind sich Negri/Hardt bewusst, wenn sie so ein Wort wie 'Empire' wählen. Wir und die Generation, die 'Empire' jetzt liest, sind selbst ja auch mit 'Star Wars' usw. aufgewachsen.«

Es ist kaum möglich, die textliche Ebene der Tocotronic-Songs eindimensional zu lesen, zu viele unterschiedliche Motive sind darin angelegt. Tocotronic gehen bis an die Grenze, sie legen falsche Fährten, und was nun genau für gut und was für schlecht befunden wird, definieren sie nie ganz klar.

Das wirklich Bemerkenswerte an »Tocotronic« ist dann aber doch das Musikalische, sind die kaum hörbaren Geräusche, die dezent eingesetzten Streicher, die einzelnen Lärmpassagen oder Klavierharmonien, die in jedem der insgesamt 13 Stücke verborgen sind. Selbst die Stücke, in denen das Tempo anzieht (»Hier ist der Beweis«, »Hi Freaks«), sind aufwendiger und komplexer als alles, was Tocotronic früher von sich gegeben haben. Nie weiß man, was als nächstes passiert. Da bleibt nicht mehr viel übrig von den einfachen Laut/Leise-Effekten und den roh gezimmerten Nummern, für die Tocotronic früher standen. Was natürlich auch damit zusammenhängen mag, dass die Band sich so viel Zeit wie nie zuvor gelassen hat, um ein neues Werk einzuspielen.

Die Taktik, die Stücke im Produktionsprozess selbst erst richtig wachsen zu lassen, ist aufgegangen. So etwas wie Weiterentwicklung findet sich nicht nur bei der Band selbst, bei dem, für was sie heute steht, sondern immer wieder in einzelnen Songpassagen. Beispielsweise in dem frei fließenden Anfang von »Hi Freaks«, in dem eine im Hintergrund gehaltene Klavierlinie Lowtzows Gesang die Schärfe nimmt und dadurch dessen Stimme erst so richtig als Klangkörper herausschält.

Intensiv und ausgeruht klingt »Tocotronic«, das mit einem selbstreferenziellen und skeptischen Blick auf neun Jahre Bandgeschichte ausgestattet wurde. Beim ersten Hören könnte man die Platte für überproduziert und verklausuliert halten, sie humorlos finden.

Doch irgendwann wird dann klar, welche Eleganz hier in den einzelnen Details verborgen liegt, in diesem offenen Verweissystem, und wie gut der ständige Wechsel der Blickwinkel gelungen ist. Tocotronic werfen heute mehr Fragen auf über die Verhältnisse, in denen wir leben, als dass sie Antworten formulieren (wollen). So kann es ruhig weitergehen, immer weitergehen.

Tocotronic: »Tocotronic«, L'Age D'Or/Zomba