Zur Karriere des Agenten Reinhard Gehlen

Schatz im Silbersee

Reinhard Gehlen war zuerst ein Agent der Nazis, dann der BRD. Kürzlich wurde bekannt, dass er 1956 einen Staatsstreich plante, für den Fall eines Wahlsieges der SPD.

Der deutsche Spion Reinhard Gehlen dürfte sich gewundert haben, als er 1953 den frisch gedruckten Roman »Das Treibhaus« las. Man nimmt an, dass er damals ein geheimdienstliches Dossier über den Autor anlegen ließ: Aktenzeichen »Wolfgang Koeppen«. Koeppens zweiter Nachkriegsroman schildert die Kontinuität nationalsozialistischer Macht in der aufstrebenden Bundesrepublik. Ein energischer General namens Frost-Forestier taucht darin auf, in dem die Literaturkritik eine Schlüsselfigur sah für Reinhard Gehlen, ehemaliger NS-General und Mitglied mehrerer faschistischer Organisationen wie der jugoslawischen Ustascha und der rumänischen Eisernen Garde.

Seit Beginn der fünfziger Jahre war Gehlen mit dem Aufbau eines neuen Geheimdienstes beschäftigt. Wie viele ehemalige NS-Größen - z.B. in Großkonzernen wie Porsche und Daimler-Benz oder einer Partei wie der FDP (Jungle World, 22/02) - konnte Gehlen nach dem Krieg in verantwortungsvoller Position weiterarbeiten. Für ihn gab es keine »Stunde Null«.

Am 3. April 1902 in Erfurt geboren, stieg er bereits 1935 in den Generalstab des Heeres auf. Gehlen wurde von 1942 bis 1945 als Abteilungsleiter des NS-Spionagedienstes Fremde Heere Ost zur Aufklärung russischer Partisanen- und Truppenbewegungen eingesetzt. Er brachte die militärische Aufklärung voran, indem er ausführliche Dossiers über russische Offiziere anlegte und Informationen im großen Stil sammelte. Die feindliche Spionage diente ihm zusätzlich als Inspiration, Datenmaterial über russische Tarnsysteme und andere technische Details archivierte er akribisch. Von parteikommunistischen Politikern erstellte Gehlen umfangreiche Profile.

Kurz vor Kriegsende ließ er das gesamte Material seiner Abteilung auf Mikrofilm speichern, in 50 große Stahlkisten verpacken und unter einer Hütte nahe des Spitzingsees in Oberbayern vergraben. Mit diesem »Schatz« in der Hinterhand liefen Gehlen und sein Tross zu den Alliierten über. Die Amerikaner freuten sich über das Know-how des Spionagemeisters, denn der Kalte Krieg begann sich abzuzeichnen. Gehlen hatte die Seite im richtigen Moment gewechselt.

Über ein Jahrzehnt, von 1956 bis 1968, amtierte der ehemalige NS-General als Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND) mit Kollegen wie SS-Oberführer Wilhelm Krichbaum, dem ehemaligen Chef der Geheimen Feldpolizei in der berüchtigten Amtsgruppe Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht, an seiner Seite. Obwohl einige der Organisationen, in denen Gehlen und seine Männer vor 1945 unbeirrbar ihren Dienst getan hatten, in den Nürnberger Prozessen für verbrecherisch erklärt wurden, entkamen viele Verantwortliche dem Vorwurf der Beteiligung an NS-Kriegsverbrechen. Selbst die wenigen gegen ihre Untergebenen angestrengten Prozesse wurden unter dem Amnestiedruck der Ära Adenauer meist wieder eingestellt. Gehlen, 1946 vom Militärtribunal als »nicht belastet« eingestuft, saß also in der 1949 gegründeten Bonner Republik weiter fest im Sattel. Vorher beteiligt am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg im Osten, stand er nun im Dienste des Antikommunismus der Bundesrepublik.

Die von der CIA unterstützte und zunächst aus 350 Agenten bestehende »Organisation Gehlen« rekrutierte als Vorgängerin des BND bereits in den ersten Nachkriegsjahren hunderte von ehemaligen Nationalsozialisten, SS- und Wehrmachtsoffizieren. Mit aktiver Unterstützung von US-Geheimdiensten wurden diese aus Kriegsgefangenenlagern geholt. Bis 1956 erhielt Gehlens Geheimorganisation viele Millionen Dollar aus US-Fonds. Als er die ersten 3 000 Mitarbeiter zusammengesammelt hatte, zog er von seinem Hauptquartier im Spessart nach Pullach im Süden von München um.

Wie kürzlich nach der Freigabe von Geheimakten der CIA bekannt wurde, plante Gehlen (US-Deckname »Utility«) im März 1956 sogar einen Staatsstreich. Der Kommunistenfeind fürchtete einen Wahlsieg der SPD und damit die politische Weichenstellung für ein neutrales Deutschland, das, so seine Befürchtung, früher oder später dem »Einfluss des Ostens« erliegen werde. Falls es dazu komme, äußerte er gegenüber seinem CIA-Kontaktmann, fühle er sich berechtigt, alle denkbaren Gegenmaßnahmen »einschließlich der Bildung eines illegalen Apparats in der Bundesrepublik zur Bekämpfung der deutschen Anhänger einer prosowjetischen Republik« zu ergreifen. Offenbar wollte Gehlen seinen Umsturzplan in Washingtoner Kreisen besprechen. Ob es dazu kam, bleibt ungewiss.

Sicher ist, dass Gehlen bereits einen Monat später, im April 1956, Präsident des BND wurde und damit direkt dem Bundeskanzleramt Konrad Adenauers unterstellt war. Vorerst sollte keine SPD-Regierung an die Macht kommen, und Gehlen musste auch kein neutrales Deutschland erleben. Kein Wunder, war doch die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu eng mit dem Nationalsozialismus verbunden, ideologisch und personell. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 1953 hielten 32 Prozent der deutschen Bevölkerung Adolf Hitler »von einigen Fehlern abgesehen, für einen vorbildlichen Staatsführer und sogar für den größten Staatsmann des Jahrhunderts«.

Koeppens Kollege Arno Schmidt schrieb 1959: »Unser Volk wählt sich bewusst diese Leute! Vor die Alternativen gestellt: 'Wollt Ihr eine starke Wehrmacht? Wollt Ihr die christlich = abendländisch = verantwortungsbewusste Atommacht?!'; oder aber (und hier wird die Stimme natürlich ironisch und abfällig): 'Wollt Ihr ein fleißig = unbedeutendes Dasein als Kleinstaat?' - da wählte, auch heute und künftig wieder, das deutsche Volk unweigerlich den Donnerer Thor.«

Lutz Hachmeister kommt in einem Beitrag zur Nachkriegsgeschichte des nationalsozialistischen Sicherheitsdienstes (SD) in der Zeitschrift Mittelweg 36 sogar »ganz nüchtern« zu dem Ergebnis, dass die bundesrepublikanische Lebenswelt »biographisch-generationell« noch bis in die siebziger Jahre hinein in weitreichendem Maße nationalsozialistisch durchdrungen war.

Gehlen hatte jedenfalls keine Probleme, sich auch nach dem verlorenen Krieg treu zu bleiben. 1971 rechtfertigte der stolze Mitstreiter des »Unternehmen Barbarossa« sein Lebenswerk als ehrenhaften und konsequenten Kampf gegen den Bolschewismus. In Koeppens Roman heißt es: »Aus keinem Traum, aus keiner Umarmung hatte er sich zu lösen, kein Alp hatte ihn gequält, keine Messe rief ihn, er war nicht in Furcht verstrickt.«

Reinhard Gehlen starb am 8. Juni 1979 in Berg bei Starnberg.