... so brauch ich Gewalt

Was der Zeitungsleser über Walsers »Tod eines Kritikers« wissen kann.

Dass der Fall nichtsnutzige Germanisten zu Scharen aus ihren Stuben locken würde, befürchtete ich schon, als ich Frank Schirrmachers offenen Brief las. Noch am selben Tag trat Maike Albath, Trägerin des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik 2002, vor ein Mikrofon des Deutschlandradio und erklärte erstens, der Name André Ehrl-König, der in Martin Walsers Roman »Tod eines Kritikers« für Marcel Reich-Ranicki steht, verweise auf Goethes Erlkönig, der einen Knaben ins Reich des Todes locke, und zweitens, sie könne keinen Antisemitismus in diesem Roman entdecken.

Ich nehme nicht an, dass Albaths Eltern sie daraufhin anriefen, um ihr vorzuhalten: »Dafür haben wir dir acht Jahre Universität bezahlt?« Im Gegenteil werden sie stolz auf ihre Tochter sein, die weiß, was sie sagen muss, wenn sie in Deutschland Literaturkennerin bleiben will. - Dasselbe, was auch Walser sagte. Dieser Roman sei Literatur und müsse als Literatur behandelt werden. »Walser liest«, berichtet der verständnisvolle Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung, »erläutert die literarische Konstruktion und die Rollenprosa, bittet den Zuhörer am Telefon beinahe inständig, genau aufzupassen auf den Konstruktivismus, um den sich Schirrmacher erklärtermaßen nicht kümmern will.«

Wer genau auf den »Konstruktivismus« aufpassen will, sollte mit dem Namen der Hauptperson anfangen. Der jüdische Starkritiker heißt also André Ehrl-König. Jedes Kind kennt Goethes Verse, »Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? (...) Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?« Der Verführung des Erlkönigs »mit Kron und Schweif« erliegt der Knabe schließlich und muss sterben. Da nun Walser nicht müde wird zu betonen, Thema des Buches sei, »wie es den Autoren ergeht, wenn über sie Macht ausgeübt wird« bzw. »wie so eine Figur wie Reich-Ranicki seine Macht im Literaturbetrieb ge- und missbraucht« (Die Welt), drängt sich die Vorstellung auf, die Macht auch dieses Ehrl-König sei zauberisch und tödlich.

Goethe griff für sein Gedicht auf eine nordische Sage zurück. Der »Ellerkonge« ist nicht der König der Erlen (wie Herder, der die Sage aus dem Dänischen übersetzte, missverstand), sondern der dunklen Elfen, ein böser und mächtiger Naturgeist, dessen Verwandtschaft mit Odin, dem germanischen Kriegsgott und Totenführer, gelegentlich betont wird.

Wie bei einer Wagner-Oper ist der Hintergrund von Walsers Rollen pseudogermanisch oder -altdeutsch, und Beckmesser gibt hier den Alberich, während Hans Sachs Hans Lach heißt. Wenn Helmut Böttiger im Tagesspiegel behauptet, der Name des jüdischen Starkritikers im Roman zeige »Walsers Willen zur Schmiere«, liegt er wie immer daneben. Vielleicht ist diese Namenswahl der einzige nüchterne Einfall Walsers. Er fasst sein antisemitisches Phantasma jedenfalls beispielhaft zusammen. Im Zentrum des deutschen Antisemitismus seit Luther steht der Gegensatz Gesetz (jüdisch) und Evangelium (christlich), das Gesetz steht für den Tod, das Evangelium für das Leben. Das Leben wird in Walsers Roman von Hans Lach vertreten, dem, wie nur den Germanen von reinem Geblüt, »reiche schöpferische Künstlerkraft« (S. H. Chamberlain) eignet, während der Starkritiker, versucht er, selbst schöpferisch zu sein, nur zu »Wortkonditorei« imstande ist (aus Walsers Erläuterung der Figur, Süddeutsche Zeitung). Dafür exekutiert dieser das tödliche Gesetz, demzufolge z.B. kein Roman »mehr als vierhundert Seiten lang« sein darf.

Ist also der jüdische Kritiker ein Erlkönig, der den lebendigen, schöpferischen deutschen Dichter in die modrige Welt einer formalistischen Literaturbetrachtung ziehen will, ist er auch ein Mörder am Schöpferischen, und seine Unsterblichkeit erklärt sich nicht, wie Schirrmacher vermutet, daraus, dass »der ewige Jude unverletzlich«, sondern daraus, dass er der Tod selbst ist, denn der Tod allein ist unsterblich.

Aber dieser Tod ist auch ein Verführer, seine »berühmte und beliebte Fernseh-Show« entscheidet über Wohl und Wehe der »doitschen Gegenwartsliteratür«, die der Kritiker gleichwohl verachtet. Die Zuschauer hängen an seinen schiefen Lippen; er leidet an einer »Mundunpäßlichkeit«. Über welchen Schriftsteller sein Zauber aber nichts vermag, den richtet er öffentlich hin. Seine Opfer können sich nur an seiner Hässlichkeit aufrichten. Ulrich Weinzierl führt in der Welt diese Stelle an: »Hans Lach ereifert sich angeekelt über das 'weiße Zeug', das Ehrl-König 'in den Mundwinkeln' bleibe. 'Scheißschaum', ruft ein zweiter, 'das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert ja durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der doitschen Literatür aufgeilt. Der Lippengorilla, der elendige.'«

Walser hat darauf hingewiesen, er sei von dieser Figur auch fasziniert, doch nie war der Weg von fascino zu fascio kürzer. Dämonisiert wird der Kritiker, und seine Macht wird zauberisch genannt, um den Wunsch, er möchte tot sein, eindringlicher zu machen. »Das Thema war jetzt, dass Hans Lach einen Juden getötet hatte.« Der Erlkönig ist eine Bedrohung, der Verführer ist auch ein Vergewaltiger. »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; / Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« Das ist nicht allein übertragen aufzufassen, er vergewaltigt nicht nur deutsche Schriftsteller, indem er ihnen sein Gesetz aufzwingt, er vergeht sich buchstäblich an Jungfrauen.

Ein Auszug aus Walsers Roman: »Nehmen Sie Ehrl-König und die Frauen. Es hat sich nie um Frauen gehandelt, immer um Mädels. Oder auch um Mädelchen. Mädel oder Mädelchen, da hat er immer scharf unterschieden. Am liebsten waren ihm natürlich Mädelchen, aber wenn's keine gab, nahm er auch Mädels. Frauen findet er langweilig. Unzumutbar. Besonders doitsche. Weibliches plus Schicksal, zum Davonlaufen! Aber schicksallose, ihres Aufblühens noch nicht ganz sichere Mädels oder Mädelchen, dann wisse er, sagte er, wozu er zur Welt gekommen sei. Herr Pilgrim (ein Verleger; S.R.) mußte ihm jede auftauchende Literaturjungfer sofort melden. Und er fragte nie: Schreibt sie gut, sondern: Ist sie hübsch. Eine der kühnsten Kreationen RHH's (sein Freund; S.R.) sei gewesen: Der-Tee-in-der-Suite. Daß Ehrl-König mit jeder in Frage kommenden Jungautorin in den Vier Jahreszeiten gegessen, dann formelhaft gesagt habe: Den Tee nehmen wir in meiner Suite!, das sei inzwischen in der Szenenbelletristik schon ein paar Mal beschrieben und ausgemalt worden.«

Nicht an »feinen Knaben«, auch nicht an Frauen, nicht einmal an jungen Damen, nein, an sehr jungen Mädchen, an »Literaturjungfern« sättigt sich dieser Blaubart am liebsten. Fehlte nur noch, dass er ihr Blut säuft. Was ihn hingegen abschreckt, ist das »Schicksal«, das »doitsche« Schicksal insbesondere, davor weicht er zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser. Schicksal ist ihm, dem Verehrer jüdischer Asphaltliteraten wie Philip Roth, ein Graus. Kein Wunder, ist doch, wie jeder Antisemit seit Chamberlain weiß, das Schicksal germanischen Ursprungs, es gedeiht nur auf deutschem Boden, und die Juden haben höchstens ein unglückliches, das sie sich überdies selbst gewählt haben. (Aus Walsers Erläuterung der Figur: »Geburtsorte: Brüssel, Bonn, Berlin, Breslau«; soll heißen: ein Entwurzelter, Heimatloser besitzt kein Schicksal im engen Sinn. Dem Juden gebricht es vor allem an der Treue zu einem tiefen Bodensee.)

Der Kritiker ist überdies ein schwer reicher Mann. Der Roman erwähnt den Umstand, er fahre einen Jaguar, direkt nach dem bekannten, »daß André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust. Auf dem Kühler von Ehrl-Königs Jaguar (...) sei der berühmte gelbe Cashmere-Pullover, den der Kritiker in seiner Fernsehshow immer um seine Schultern geschlungen trage, gefunden worden.« »Holocaust« und »Jaguar« müssen zusammenklingen, damit auch die Finkelstein-These ihr Plätzchen hat. Den Jaguar hat sich der Ehrl-König mit einem Verrat verdient, indem er eine »Umwertung aller Werte« der deutschen Kultur betrieb, geblieben sei »nur der Unterhaltungswert. Quote. Die wahre Demokratie« (aus Walsers Erläuterung). Nicht der Kapitalismus soll an diesem angeblichen Niedergang schuld sein, sondern einer seiner Angestellten, der nicht zufällig Jude ist.

Zusammengefasst: Walser lässt an bekannten antisemitischen Klischees höchstens die vergifteten Brunnen und den gemordeten Messias aus, aber vielleicht kommen auch sie vor, wer weiß, ich kenne nur die wenigen vorabgedruckten Seiten, die jeder Zeitungsleser kennen kann (und mehr vertrüge selbst mein Straußenmagen nicht).

Diejenigen Literaturkritiker aber, die wie Albath und viele andere behaupten, Walsers Kolportage dürfe nur nach vollständiger und gründlicher Lektüre gewürdigt werden, werden auch nach dreimaligem Lesen nicht den antisemitischen Charakter des Buches erkennen, der einem jeden Durchschnittsleser auffallen muss, wenn er nur hört, wie der Protagonist heißt. Es gibt auch professionelle Literaturkritiker, die Célines Antisemitismus bestreiten, es gibt auch professionelle Filmkritiker, die Harlans »Jud Süß« für harmlos halten, aber genau deshalb sind sie eben Professionelle.

Dass Marcel Reich-Ranicki, »die gigantische Gestalt«, wie Thomas Steinfeld, der seine gesträubte Feder bereits eine Woche vor dem Skandal tief in Walsersche Ironie tauchte, schrieb, von der »ganz großen Bühne (...) seinen Schatten über die ganze Republik« wirft und, »während die deutsche Familie noch verschreckt unter dem Küchentisch hervorlugt, (...) seine wilde Drohung« (Süddeutsche) ausstößt, ist nicht Walsers Phantasma allein. Dass es nichts als antisemitisch ist, versteht sich. Abgesehen davon, besitzt Reich-Ranicki keinen größeren Einfluss als Thomas Gottschalk und schon gar keinen auf die Literatur. Seine Show hat so viel mit Literatur zu tun wie Walsers Bücher: nichts. Reich-Ranicki bietet gutes, Walser schlechtes Entertainment.

Es wäre bloß jämmerlich, wenn einer der am meisten verdienenden und am besten etablierten Schriftsteller Deutschlands darüber klagte, ein ihm übel gesonnener Kritiker grabe ihm das Wasser ab. Doch darum geht es nicht, selbst die Larmoyanz ist hier Kalkül. Wenn Marcel Reich-Ranicki ein Buch von Walser verreißt, kann der sich freuen, denn er verkauft dann doppelt so viel. Allein seine Gier ließ ihn fragen, wie die Auflage noch weiter zu steigern sein könnte. Und der Tumult nach seiner Paulskirchen-Koketterie gab ihm ein, wie das zu bewerkstelligen wäre. Mehrere Hintertüren hat er sich offen gehalten, es handelt sich also nicht um Totschlag im Affekt, sondern um einen vorsätzlichen.