Sam Raimis »Spiderman«

Wer bin ich?

Sam Raimis »Spiderman« handelt davon, dass Jugend immer das Andere ist.

Der bisher erfolgreichste Kinostart in den USA handelt von Körperöffnungen, aus denen weißliche Sekrete treten, die an der Luft zur klebrigen Masse werden. Damit haben einige von uns zu kämpfen, vor allem männliche Jugendliche um die 14. Ein zweites Merkmal dieser Gesellschaftsgruppe: Früher konsumierte sie zur Bewältigung dieser und anderer seltsamer Vorgänge Comics. Denn den Comic-Helden ging es genauso, insbesondere einem: Peter Parker. Seitdem der Schüler, der von den großen Ärschen in seiner Klasse wahlweise Kopfnüsse oder Tritte in die Eier abkriegt, von einem eklen, mutierten Spinnentier gebissen wurde, hat sich alles verändert. Die Flüssigkeit spritzt aus seinen Handgelenken hervor - sicherheitshalber, denn es sind noch die frühen sechziger Jahre, in denen Spiderman sein Wesen treibt. Die dünnen Fäden eröffnen noch eine zweite Assoziation: Wer hängt in dem Alter nicht öfter mal in der Luft oder unter der Decke? Peter soll dem Vernehmen nach sogar ein Netz ins World Trade Center gewichst haben. Aus Gründen der Pietät soll die Szene dann aber herausgeschnitten worden sein.

»Wer bin ich?« fragt Peter. »Meine Lebensgeschichte ist nichts für schwache Nerven. Wenn euch jemand erzählt, ich sei nur ein Durchschnittstyp, der nur so in den Tag hineinlebt, dann hätte der Jemand gelogen.« Die erste Frage könnte jeder stellen, der im jugendlichen Unglück unerfüllter Wünsche lebt, denn eines ist klar: Jugend im Kapitalismus oder anderswo kann die Hölle bedeuten. Pubertät ist politisch, und das hat für die Gesellschaft Folgen, das ist nicht erst seit Erfurt bekannt.

Seitdem es Computerspiele gibt, geht es der Comic-Branche schlecht, sie darbt so dahin. Dass seit Anfang der neunziger Jahre mit »Batman«, »Tank Girl«, »Blade« vermehrt Comic-Adaptionen ins Kino kommen, hat daran nichts geändert. Die Regisseure sind zumeist mit dieser Form von Adoleszenzliteratur aufgewachsen und zollen ihren Jugendhelden Tribut. Doch die meisten Comicverfilmungen taugen leider nichts.

Anders ist es bei Sam Raimi, der sich der Verfilmung von Spiderman gewidmet hat. Unser Held trägt ein blau-rotes Kostüm, seine Augen sind weiß - ebenso sah die ausgebüxte Laborspinne aus, deren weiteres Schicksal übrigens im Verborgenen bleibt. Wird das bunte Tier noch jemanden beißen? Ähnlichkeiten zwischen dem Spiderman-Kostüm und der US-amerikanischen Nationalflagge sind - ähnlich wie beim Anzug von »Superman« - beabsichtigt.

Das jedoch sollte die Zuschauerin oder den Zuschauer, der oder die womöglich noch Jungle World abonniert und letztens noch gegen Star-Spangled-Bush demonstriert hat, nicht abschrecken. Denn Raimis Spezialität ist die Verbindung von Action und Witz, wie sie sonst im kriegstreiberischen Hollywood nicht mehr unbedingt eine Qualität darstellt. Wer's nicht glaubt, kann sich übrigens samstags auf RTL bei den Serien »Xena« und »Hercules« informieren, Raimi hat beide produziert.

Der Spinnenbiss verändert das Leben von Peter Parker (Tobey Maguire) nachhaltig. »Große Macht bringt große Verantwortung«, gibt ihm sein Onkel und Ziehvater Ben mit auf den Weg. Und dabei geht es eher um die Verantwortung als um die Macht. Raimi will vor allem eines erzählen: Die Macht, die das Erwachsenenleben mit sich bringt, hält einen von den Freuden des Lebens ab. So ist die Spinne auch ein umgekehrter Superman oder gar ein Captain America, wie ihm seine Tante denn auch noch eindrücklich versichert: »Peter, treib's nicht zu dolle, du bist schließlich nicht Superman.« Peter ist nicht der Held from outer Space, sondern, ganz irdisch, Ergebnis eines Unfalls.

Daraus bezieht der Film seine Ironie, und sie gibt der Schlüsselszene, in der aus Peters Phantasie Peters Wirklichkeit wird, den richtigen Dreh. Nach einigem Training - wir sehen den Spinnenazubi an der Decke krabbeln und beim Nachttischlampen-Fangen - setzt er sich an seinen Schreibtisch und beginnt zu malen. Denn er braucht ein eindrucksvolles Kostüm. Beim Wrestling gilt es, 3 000 Dollar zu gewinnen, um den begehrten Ford Cobra zu kaufen, mit dem er MJ (Kirsten Dunst) beeindrucken will. MJ, ihrerseits aus der Unterklasse, schaut sich verständlicherweise lieber nach den großen Jungs um als nach schwächlichen Wissenschaftsgenies, und doch landet sie in einem Schnellrestaurant und wird Kellnerin, da geht kein Weg dran vorbei.

Mit Buntstiften und Papier entsteht nun die klassische Comicfigur - der muskulöse Spinnenheld, der durch die Hochhäuserschluchten schießt. Niemand wird je erfahren, woher das echte Kostüm kommt. In der Catcherarena jedenfalls steht Peter erstmal mit den richtigen Farben, aber den falschen Klamotten herum: selbstgemaltes T-Shirt und Schlabber-Jogginghose. So sieht es also aus, wenn der junge Mann beginnt, aus seiner Vorstellung eine Realität zu machen.

Peters Terrain ist die kosmopolitische Stadt mit ihren schlechten McJobs, ruppigen Bossen, ihrem hektischen Rabatz und gewaltigen Tiefen und Höhen. Die Wahrheit dieses Films ist nicht der Spezialeffekt. Anders als etwa in »Star Wars« erzählen die Effekte - z.B. wenn die Kamera durch die Häuserschluchten schwingt - eine Geschichte, da diese Perspektivwechsel zum Ureigensten ihres Protagonisten gehören.

In der Psychoanalyse hat man sich Gedanken darüber gemacht, woher wohl die Arachnophobie kommt, auch Spinnenangst genannt, an der immerhin elf Prozent der Bevölkerung leiden sollen. Eine Theorie lautet: Bei der Spinnenangst handelt es sich um die Verschiebung eines seelischen Leidens - etwa die Angst vor der Umklammerung der Mutter - auf ein Wesen, dass von der menschlichen Erscheinungsform denkbar weit entfernt ist. Da bietet sich die Spinne an, sie klammert gleich mit acht Beinen, taucht lautlos auf wie ein Schatten und frisst den Mann, von manchen Müttern scheint sie gar nicht so weit entfernt.

Bei Peter ist es jedoch nicht so einfach. Sein Problem ist ein anderes. Seine leiblichen Eltern hat er nicht mehr, er lebt bei Tante und Onkel. Die Metamorphose verleiht ihm nicht nur Superkräfte, sondern auch Sicherheit. Seiner Liebe zu MJ nützt das. Als Peter himmelt er sie weiter an, als Spiderman aber kann er den unbekannten Helden spielen. Das Geldverdienen als Superheld ist genauso schizophren; Peter landet als Fotograf bei einer Zeitung, weil er die besten Fotos von Spiderman schießt.

»Spiderman« bezieht seinen Zauber vor allem daraus, dass Raimi aus der phantasiereichen, aber konventionellen Pubertierendenstory das Beste gemacht hat, was drin war - nebst den schön agierenden Schauspielern, die eben mal nicht die Schönsten sind. Auch sonst verstößt Raimi gern gegen Erwartungen und überschreitet jede denkbare Linie; das Drehbuch ist dicht, die Dialoge sitzen, auch wenn dem Film am Schluss ein bisschen die Luft ausgeht.

Konventionell ist dagegen das männliche Pop-Universum, wenn auch nicht durchgängig, da sich MJ ihrer Haut auch mal ganz allein zu wehren weiß. Konventionell ist, dass auch ein Peter Parker sich qua Spinnenehrenamt eben auch nur der Straßenschurkenbekämpfung widmet, bis die negative Vaterfigur endlich auftaucht, die er zu seiner Befreiung bekämpfen muss: der Vater seines Freundes, Norman Osborn (Willem Dafoe) alias der Grüne Kobold - von denen wir hier in Deutschland ja auch einige haben -, der seinen Größenwahn aus Aufträgen für die amerikanische Armee zieht.

Der Grüne Kobold, das ist Bush, Krieg, das sind die Generäle oder die Eltern, je nachdem, wer sich den Film ansieht. Peter, das ist die Spinne, das Andere, das missbrauchte Labortier, der gebrochene Held, für den es kein Saubermann-Happy End gibt wie für Superman. Und alle, die er liebt, macht er unglücklich. So sieht es in Arachnophobia, der Ziehstätte Jugendlicher, bestenfalls aus. Wenn Peter kopfüber auf der Fahnenstange des Star Spangled Banner sitzt, dann heißt das: Hier steht wenig zum Besten. Aber: Die ausgewachsenen Kobolde sind fürs Erste zurückgeschlagen - Zukunft jagt Gegenwart, genmutierte Jugendliche verscheuchen kriegstreiberische Eltern - das ist die Hoffnung. Es gibt ein richtiges Leben ohne die grünen Knülche!

»Spiderman«; USA 2002. R: Sam Raimi, D: Tobey Maguire, Kirsten Dunst, Willem Dafoe. Start: 6. Juni